Jahr für Jahr fängt man in Hiroshima die Tauben Anfang August ein, steckt sie in Bambuskäfige und lässt sie am 6. August um 8.15 Uhr frei. Auch dieses Jahr war das nicht anders. Die Tauben als Zeichen und Mahnmal für den Frieden.

Mit einer Schweigeminute haben die Menschen in Hiroshima des Abwurfs der US-Atombombe auf die japanische Großstadt vor 76 Jahren gedacht. Bei einer wegen der Corona-Pandemie erneut stark verkleinerten Zeremonie rief Bürgermeister Kazumi Matsui die Welt auf, einen Wandel von atomarer Abschreckung hin zu einem vertrauensbildenden Dialog zu vollziehen. Die Bitte Hiroshimas, auch während der Spiele eine Schweigeminute abzuhalten, hatte das Internationale Olympische Komitee (IOC) unter Leitung von Thomas Bach abgelehnt.

Am 6. August 1945, um 8.15 Uhr, wurde jene Bombe aus dem B-29-Flugzeug "Enola Gay" abgeworfen, die Hiroshima - neben Auschwitz - zum Synonym für das Unfassbare werden ließ, das Menschen im 20. Jahrhundert anderen angetan haben.

Es war der Tag, an dem die Amerikaner erstmals eine Atombombe zu militärischen Zwecken einsetzten. Der Tag, an dem der mit Schrecken nicht geizende Zweite Weltkrieg eine weitere grauenhafte Fratze aufsetzte. Paul Tibbets, US-Pilot und Kommandeur der Hiroshima-Operation, bestieg den nach seiner Mutter benannten B-29-Bomber "Enola Gay" und nahm vom US-Stützpunkt Tinian im Südpazifik aus Kurs auf das rund 2500 Kilometer entfernt liegende Hiroshima mit seinen fast 250.000 Menschen.

"Little Boy"

Die Explosionskraft der Atombombe, die von den Amerikanern "Little Boy" genannt wurde, entsprach 12,5 Kilotonnen TNT. In einem Umkreis von einem halben Kilometer um den "Ground Zero" waren 90 Prozent der Menschen auf der Stelle tot. Die Temperatur im Zentrum betrug bis zu 4000 Grad Celsius, an dieser Stelle verdampfte alles, von Häusern und Menschen blieben nur die Schatten übrig. Eine ungeheure Druckwelle, die im Umkreis von 40 Kilometern wahrgenommen wurde, zerstörte die Stadt binnen Sekunden. Es folgten Feuerstürme mit Windgeschwindigkeiten von mehr als 250 km/h und Bodentemperaturen von über 1000 Grad Celsius. Eisen und Glas schmolzen, der Asphalt brannte.

"Das Stadtgebiet sah aus, als sei es in Stücke zerrissen worden (...) Auch wenn wir etwas Furchtbares erwartet hatten, so ließ uns doch das, was wir sahen, fühlen, als seien wir Krieger des 25. Jahrhunderts", schrieb William L. Laurence, ein "embedded journalist" zu einer Zeit, als es das Wort dafür noch nicht gab, später in der "New York Times". "Mein Gott, was haben wir getan?" notierte der Kopilot der "Enola Gay", Robert Lewis ins Logbuch.


Die USA rechtfertigten den Abwurf der Atombomben damit, dass die Japaner nur auf diesem Weg zur Kapitulation gezwungen werden konnten. In Europa war der Zweite Weltkrieg beendet, doch die USA hatten noch zwei außenpolitische Probleme: der Krieg im Pazifik und das Verhältnis zur Sowjetunion.

Stalin im Hintergrund

"Weder die Atombombe auf Hiroshima noch Nagasaki waren notwendig, um Japan zur Kapitulation zu zwingen. US-Präsident Truman wollte schlicht verhindern, dass Stalin mit am Siegertisch des Pazifikkrieges sitzt", schreibt der amerikanische Historiker und Pulitzer-Preisträger Martin Sherwin. Auch für Tsuyoshi Hasegawa, Historiker an der University of California, steht fest: "Der Eintritt der Sowjets in den Pazifikkrieg war für die Kapitulation Japans entscheidender als die Atombombe." Japan war damit klar, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen war, es ging nur noch um bestmögliche Bedingungen nach dem Ende und um den Erhalt der Monarchie.

"Die USA haben die Bestandsgarantie für das Kaiserhaus aus der Kapitulationsaufforderung als Zugeständnis gestrichen und so womöglich das Kriegsende bewusst hinausgezögert, um die Bombe zu werfen", sagt Hasegawa. Die USA, die sich nach Pearl Harbor moralisch auf der sicheren Seite sahen, hatten schließlich neben der Hiroshima-Bombe noch eine weitere auf Lager, die sie am 9. August auf Nagasaki warfen. "Gerade die in Nagasaki verwendete Technologie galt als Zukunftsmodell", sagt Historiker Sherwin. Und deren Wirkung war unerforscht.

"Wir waren Versuchskaninchen", klagt Sakue Shimohira an. Sie ist eine Hibakusha, wie man die Überlebenden der Atombombenabwürfe in Japan nennt. "Die Amerikaner haben uns Überlebende untersucht, aber behandelt haben sie uns nicht", sagt Shimohira.

Noch zynischer als die Bezeichnungen "Little Boy" und "Fat Man" für die grauenvollsten Waffen, die das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat, erscheint angesichts von Hunderttausenden Toten in Hiroshima und Nagasaki nur ein Zitat von US-Präsident Harry S. Truman: "Aber wir werfen die Bombe nicht auf Frauen und Kinder. Wir sind eine zivilisierte Nation."