Am Abend ist es wieder soweit. Die deutsche Nationalmannschaft läuft auf ein Fußballfeld und gefühlt neun Millionen Österreicher mutieren zu leidenschaftlichen Engländern. Allerdings sind Österreicher in diesem Punkt aus meiner Sicht ja nationalflexibel. Selbst wenn es gegen Guatemala ginge, wären sie leidenschaftliche – ja was eigentlich? Guatemalteken oder Guatemaltesen. Wurscht. Egal, wie die Landsleute des deutschen Gegners auch heißen mögen, die patriotische Leidenschaft glüht ohnehin nur 90 Minuten. Zu wenig Zeit also, um sich ernsthaft mit folkloristischen Petitessen aufzuhalten, schließlich glaubt man ja über „die Deitschn“ genug zu wissen.

Das gepflegte Halbwissen wird einem ohnehin regelmäßig präsentiert. Der TV-Moderator Dirk Stermann stellte bei seiner Ankunft in Wien 1987 erstaunt fest: „Ich hatte keine Meinung zu den Österreichern. Aber womit ich nicht gerechnet hatte: Jeder Österreicher hatte eine Meinung zu den Deutschen.“ Ich füge an: Selten zunächst eine Gute. So urteilte meine damalige Schwiegeroma aus der Südsteiermark nach dem ersten Treffen: „Für einen Deutschen ist er aber ganz nett.“ Sie hat es, glaube ich, gut gemeint. Zugegeben: Weder ich habe sie verstanden, noch sie mich. Herzlich warm wurden wir dann doch.

Entnervt

Als Piefke in Österreich hat man bei Fußballspielen immer mit zwei Gegnern zu tun - jenem physischen auf dem Fußballplatz und dem emotionalen auf dem Nebenplatz. So schieden die Deutschen 2018 bei der WM in Russland schmerzvoll in der Vorrunde aus und die Stimmung in unserem Newsroom kochte über. Einige tobten sich geradezu an mir aus. Entnervt ergriff ich die Flucht. Den Chefredakteur wühlt das bis heute auf. Ich hatte es fast vergessen. Wer unter den Wölfen lebt, lernt mit ihnen zu heulen. Das Deutschen-Bashing nervt mitunter gehörig, ist aber wie mit dem Fluglärm in einer Einflugschneise. Bald überhört.
Heute könnte der Newsroom wieder kochen. Doch diesmal ohne mich. Fast 15 Jahre nach dem ersten Wurzelschlagen in Graz verlasse ich die Steiermark. Allein ein Koffer ist voller schöner Erinnerungen und schräger Begebenheiten.



Da ist schon die erste Ankunft in Graz 2007. Wer als Berliner vom Provinzflughafen Tegel gestartet ist, fühlt sich im übersichtlichen Thalerhof sofort daheim. Zudem wurden alle Passagiere zum „Gebäck in die Haupthalle“ gebeten. Was für ein liebevolles Volk, so dachte ich, wenn man gleich mit Süßem begrüßt wird. Dass Österreich neben ihrer Schwäche für Mehlspeisen auch eine mit B und P haben, begriff ich erst am Gepäckband.

Ohnehin ist die gemeinsame Sprache, die uns unterscheidet, ein steter Quell der Bereicherung. Jedes Gespräch mit einem neuen Bekannten dreht sich darum. Dass man in Österreich Realitäten verkauft und in Wirklichkeit nur ein Haus bekommt, amüsiert mich noch immer.

Herzensbekundung

Andersherum sprach mich ein Kollege aus der Oststeiermark zu Beginn einmal erbost an. Er wundere sich, dass ich ihn immer nur mit einem schnellgesprochenen „Na“ begrüße. Ob ich das böse meine. Was er nicht wissen konnte: Berliner neigen zwar zum viel und schnell Reden, aber das geht nur mit verbaler Effizienz. „Na“ ist eine Herzensbekundung. Darin steckt ein „Hallo, wie geht es dir? Was machst du gerade?“

Jahre später erzählte mir der liebe Kollege davon, wie er einem Taxifahrer am Flughafen Tegel erzählen wollte, wo er denn hin müsse. Der Berliner Droschkenfahrer habe ihn nach geraumer Zeit verzweifelt gefragt, ob sie nicht besser Englisch miteinander sprechen könnten. Ich kann ihn gut verstehen. Oft gingen ganze Sätze in meinem Bergwerk der Worte unbearbeitet verloren.

Titelfetischismus

Schrullig war für mich auch der Titelfetischismus. Mit einer Bekannten in Wien habe ich einmal eine Stunde vor dem Bestellportal der Staatsoper gesessen und allein die Auswahl der Anrede durchgeblättert. Den Hofrat kennen die Deutschen ja aus zahlreichen Filmen mit Hans Moser. Auf gefühlt 500 Möglichkeiten kommt man dort. Gefehlt haben nur der Hinterhofrat und der Bahnhofsrat. Und natürlich mein Titel: Diplom-Sportwissenschaftler, den ich mir aus Integrationsgründen sogar an das Türschild in der Redaktion machen lassen wollte. Nur war leider nicht genug Platz dafür. Die Lösung „Dipl-Spowi“. Einige hielten das für eine Persiflage.

Und ja, es gab auch Kulturschocks. Als Deutscher glaubt man, dass beide Länder wegen der (ungefähr) gleichen Sprache auch ähnlich in Gesellschaft und Staat ticken müssten. Mitnichten. Dass Österreicher sich nicht anstellen können, treibt mir bis heute den Schweiß auf die Stirn. Verwirrender als die Vorfahrtsregelungen in einer verkehrsberuhigten Zone ist vermutlich nur ein Kreisverkehr in Rom. Aber das fragt man sich als Piefke ja ohnehin oft in der neuen Heimat: Warum macht ihr eigentlich Regeln, wenn ihr euch nicht daran haltet?

"Net von da"

Das Ungefähre, Unverbindliche, die Zweideutigkeit der Worte, die offene (Flucht)Tür bei allen Verabredungen, sind für die meisten Deutschen so kompliziert zu verstehen wie das Firmendiagramm des Mateschitz-Imperiums. Als Berliner immerhin ist man Meister des Unvollendeten und der Improvisation, mitunter auch des Chaos. Nach kleinen Anpassungsschwierigkeiten gelingt die Entpiefkinisierung. Sprachlich allerdings war jede Mühe bei mir wie Perlen vor die Säue. So mancher Anrufer in der Redaktion sagt noch heute nach einem längeren Schweigen: „Ah, Sie sann net von da!“
Naaa, von da bin I net. Aber mittlerweile angekommen. Tatsächlich war mir Graz im November 2006 noch unbekannt, als ich das erste Mal mit einer Bewohnerin der Stadt näher in Berührung kam. In Berlin kennt man ja meist nur Tirol, Salzburg und Wien. Viele Deutsche haben über Österreich nicht nur keine Meinung, das Land ist jenseits von Bayern auch nur ein Nachbar in Europa unter vielen. Natürlich war das Grubenunglück von Lassing ein riesiges Thema auch in den deutschen Nachrichten, aber dass mir Orte wie Lassing mit ihren Bewohnern einmal so liebenswert ans Herz wachsen würden, daran habe ich vor 15 Jahren nicht gedacht. Ein wenig Wehmut steigt kurz vor der Abfahrt dann doch noch auf.

Koffer in Graz

Meiner Heimstadt schenkte Marlene Dietrich einst eine Liebeserklärung: „Ich hab noch einen Koffer in Berlin.“ Das ist dann für einen echten Berliner schon hochemotional. Die höchste Form des Lobs für alle Dinge des Lebens lautet schließlich: „Kann man nich meckern“. Und so wird jetzt auch ein Koffer in Graz bleiben. Nach dem Abschiedsabend in der Redaktion ging im Osten hinter dem Ruckerlberg schon die Sonne auf. Leicht illuminiert lief auf dem Handy Reinhard Fendrich und bei mir eine Träne.
Fast wia die Tränen von am Kind, wird a mei Bluat auf amoi schnö, sog i am End der Welt voi Stolz und wenn ihr woits a ganz allan: I am from Austria
Ich habe es geflüstert, damit mich keiner hört. Aber eben mit meinem Zusatz: War schön jewesen!