Türkische Minister sind unangenehme Fragen von Journalisten nicht gewohnt: Die regierungsnahe Presse fungiert als Stichwortgeberin, und kritische Berichterstatter sind in Pressekonferenzen nicht zugelassen. Umso überraschter waren Industrieminister Mustafa Varank und Agrarminister Bekir Pakdemir jetzt, als ein Reporter der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu sie vor laufenden Kameras mit den Vorwürfen eines Mafiabosses gegen Innenminister Süleyman Soylu konfrontierte. Der Journalist wurde sofort entlassen und als Staatsfeind diffamiert.

Der Umgang mit dem Anadolu-Reporter Musab Turan ist symptomatisch für die Reaktion der Regierung auf die Enthüllungen des Mafioso Sedat Peker. Aus seinem Exil in Dubai legt Peker seit Wochen per Video die Verbindungen der Führung in Ankara zum organisierten Verbrechen und die Verwicklung von Politikern in Gewalttaten und Drogenschmuggel offen. Mit den Videos rächt sich Peker an Innenminister Soylu. Der Minister habe lange von seinem Geld und Einfluss profitiert und ihm im Gegenzug Schutz versprochen, sagt Peker. Doch dann habe Soylu ihn fallenlassen.

Erdoğan hüllt sich in Schweigen

Pekers Videos zeigten, dass die Mafia in der Türkei zu einem regelrechten Staatsorgan geworden sei, kommentierte die regierungskritische Zeitung „BirGün“. Die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan will eine Diskussion darüber vermeiden. Erdoğan selbst schweigt, und auch die vielen regierungstreuen Medien ignorieren das Thema. Kritische Fragen wie die des Anadolu-Reporters werden als Angriff auf den Staat bezeichnet. Die Behörden ließen zudem den Zugang zu Pekers Internetseite sperren.

Trotzdem ist die Serie der Mafia-Videos in der Türkei ein Straßenfeger. Die bisher sieben Clips wurden auf YouTube bisher fast 50 Millionen Mal angeschaut, allein die jüngste Folge vom Sonntag kommt auf zehn Millionen Clicks. Peker breitet in seiner Serie aus, wie Vertreter der Regierung die Mafia als Karrierehelfer und als Handlanger für schmutzige Geschäfte nutzten und sich so von ihr abhängig machten. Die Videos seien „wie eine surreale Reality-Show“, schrieb der Oppositionspolitiker Metin Gürcan in einem Beitrag für die Nachrichtenplattform Al-Monitor.

In seiner neuesten Sendung warf Peker am Sonntag einem Sohn des früheren Ministerpräsidenten Binali Yildirim internationalen Drogenschmuggel im großen Stil vor. Der Mafiaboss will auch Interna über den bis heute nicht aufgeklärten Mord an dem Investigativ-Reporter Uğur Mumcu im Jahr 1993 wissen: Mumcu sei vom Staat beseitigt worden, weil er Drogen- und Waffengeschäfte von Behördenvertretern mit der kurdischen Terrororganisation PKK untersucht habe, sagte Peker.

In anderen Sendungen berichtete der verurteilte Schwerverbrecher Peker, wie er auf Geheiß von Politikern aus Erdoğans Partei AKP einen Abgeordneten verprügeln ließ, und wie er 2015 den Überfall eines Mobs auf das Verlagshaus der Zeitung „Hürriyet“ organisierte – kurz darauf musste er Verleger die Zeitung an einen Erdogan-treuen Unternehmer verkaufen. Soylu, der sich mit Erdoğans Schwiegersohn Berat Albayrak einen regierungsinternen Machtkampf liefert, lasse den Erdogans Sprecher und Büroleiter abhören, sagt Peker.

In seinem jüngsten Video deutete Peker an, dass die türkische Regierung Agenten nach Dubai geschickt habe, um ihn festzunehmen – deshalb habe er seinen Aufenthaltsort gewechselt. Pekers Bruder Atilla wurde am Sonntag von der türkischen Polizei festgenommen.

Die Opposition fordert den Rücktritt des Innenministers und will diese Woche im Parlament die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses beantragen. Selbst in Erdoğans AKP wächst der Unmut über die Vorwürfe gegen Soylu und andere Politiker. Soylu wehrte sich mit einem mehrstündigen Fernsehauftritt im Staatssender TRT, konnte Pekers Vorwürfe aber nicht entkräften.

Das liegt nicht zuletzt daran, dass Peker seine Vorwürfe belegen kann. So behauptete er, der regierungsnahe Journalist Hadi Özışık habe zwischen ihm selbst und Soylu vermittelt. Als Özışıkdas dementierte, veröffentlichte Peker den Mitschnitt eines Video-Telefonats mit dem Journalisten.

Erdoğans Beliebtheit im Volk schwindet

Am schwersten wiegen aber nicht die Enthüllungen selbst, sondern der Eindruck, dass die Regierung nichts gegen die Skandale tun will oder kann – und das in einem Land, in dem jede noch so harmlose Kritik an Erdoğan und seinen Ministern sofort die Staatsanwaltschaft auf den Plan ruft.

Wenn  den Skandal nicht einfangen könne, werde die Angelegenheit auch für ihn selbst gefährlich, meint Oppositionspolitiker Gürcan. Schon vor den Peker-Videos hatte Erdoğan in Umfragen wegen der schlechten Wirtschaftslage an Boden verloren. Der Versuch, die Affäre auszusitzen, ist für den Präsidenten deshalb riskant – vor allem, weil schon bald das nächste Peker-Video auftauchen könnte.