Vor der Wiederholung von Fehlern im Umgang mit der Covid-19-Pandemie im vergangenen Sommer und Herbst warnen Wissenschafter in einer Prognose im Fachjournal "The Lancet Regional Health Europe". 34 führende Experten versuchen sich darin an einem mittelfristigen Ausblick. Sie betonen die Möglichkeit von größeren Wellen ab Herbst, wenn auf Eindämmungsmaßnahmen verzichtet wird, die Impfquoten nicht erhöht werden und es kein europaweit abgestimmtes Vorgehen gibt.

Aus Österreich finden sich mit Peter Klimek vom Complexity Science Hub Vienna (CSH) und der Medizinischen Universität Wien, Thomas Czypionka vom Institut für Höhere Studien (IHS), der Politikwissenschafterin Barbara Prainsack von der Universität Wien sowie der Epidemiologin Eva Schernhammer von der MedUni Wien und der Harvard Medical School (USA) namhafte Vertreter unter den Autoren. Der Blick der Analyse liegt auf den Zeiträumen Sommer 2021, dem kommenden Herbst und Winter 2021-2022 und auf der Perspektive für die kommenden drei bis fünf Jahre. Die Basis bilden Überlegungen zur Immunität durch den Impfschutz, zu weiteren Virusmutationen (besorgniserregenden Varianten oder gar Immunfluchtvarianten) sowie zur Einstellung und Bereitschaft in Europas Bevölkerung, nicht-pharmazeutische Maßnahmen weiter mitzutragen.

Virus kann nicht mehr ausgelöscht werden

Für Klimek ist klar, dass wir uns mit Impfungen bis zum Erreichen einer mittlerweile vielfach als unrealistisch eingestuften Herdenimmunität alleine die Pandemie leider nicht vom Hals schaffen können. Es brauche aller Voraussicht nach auch weiter Maßnahmen zur Eindämmung, wie gute Risikokommunikation und das Testen, Tracen und Isolieren (TTI). Man gehe allerdings nicht davon aus, "dass wir jeden Winter Lockdowns brauchen werden", betonte Klimek im Gespräch mit der APA. Die Pandemie werde uns jedoch weiter vor Herausforderungen stellen, da einer der einhelligen Punkte unter den an der Arbeit beteiligten Experten war, "dass wir es nicht mehr schaffen werden, das Virus auszulöschen". Daher brauche es möglichst niedrige Fallzahlen und europaweit "eine klare, evidenzbasierte und kontextrelevante Strategie sowie konzertierte Anstrengungen und Maßnahmen", so die Experten.

Impfung nimmt eine zentrale Rolle ein

Die Impfung spielt die zentrale Rolle in der Überlegung der Wissenschafter. Nur so gelinge es, die Risikogruppen und das Gesundheitssystem zu schützen. Über eine allgemeine Impfpflicht werde in Europa künftig sicher diskutiert, wenn die laut Klimek zu erwartende Welle in nicht geimpften Bevölkerungsgruppen Richtung Herbst ansteigt. Die Wirksamkeit einer Impfpflicht auch über bestimmte Berufsgruppen hinaus bleibe aber "umstritten, da die Durchimpfung von einem komplexen Zusammenspiel verschiedener Faktoren abhängt", heißt es in dem Papier.

Bei der Diskussion über die laut den Experten voraussichtlich notwendige Wiedereinführung und Aufrechterhaltung von Eindämmungsmaßnahmen, müsse auch darüber nachgedacht werden, wie unterschiedlich Geimpfte und Nicht-Geimpfte behandelt werden. Impfstoffe reduzieren "wahrscheinlich auch dann die Übertragbarkeit, wenn sich Menschen trotz voriger Impfung anstecken. Vor allem scheinen sie schwere Symptome und Krankenhausaufenthalte zu verhindern, wobei eine relative Risikoreduktion von etwa 70-95 Prozent erreicht wird", schreiben die Experten.

Warnung vor Fehlern des vergangenen Jahres

Gehen die Fallzahlen - wie schon aktuell beobachtet - weiter nach oben, werde es die Aufgabe der Regierungen sein, die Fehler des vergangenen Herbstes und Winters nicht zu wiederholen. Die Erfahrung lehre, "dass die Wiedereinführung der notwendigen Gesundheitsmaßnahmen zu spät kommen könnte, um eine weitere Welle im Herbst erfolgreich zu verhindern", warnen die Wissenschafter. Für Klimek gilt "leider nach wie vor, dass wir auf europäischer Ebene relativ unkoordiniert vorgehen. Da haben wir die Lehren nicht gezogen". Komme hier kein Umdenken, "spielen wir weltweites Pandemie-Ping-Pong mit immer neuen Ausbrüchen und neuen Varianten", so Czypionka in einer Aussendung des IHS.

Klimek warnt vor einer "Täglich grüßt das Murmeltier"-Situation mit der Quasi-Absage der Pandemie im Sommer bei gleichzeitiger Aufbereitung des Nährbodens für künftige Wellen. Ob hier dazugelernt wurde, werde "der ultimative Test in den kommenden Monaten" zeigen.

Sehr interessant werde, wie langfristig eine durch Impfung oder durchgemachte Krankheit aufgebaute Immunität auch angesichts neuer Varianten bestehen bleibt. Unter anderem deshalb sollten mühsam aufgebaute Infrastrukturen beibehalten werden. "Diese Infrastruktur umfasst grundlegende Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens, gut geschultes Personal in ausreichender Zahl, gut funktionierende TTI-Systeme, eine weit verbreitete Sequenzierung der Virusvarianten und gut etablierte molekulare Überwachungsmechanismen", so die Forscher.