Wie konnte es in Indien zur Katastrophe kommen?
Christian Wagner: Indien hat sich zu lange in falscher Sicherheit gewogen und die strikten Maßnahmen, mit denen die Pandemie im Vorjahr gut unter Kontrolle gehalten werden konnte, zu früh gelockert. Gut besuchte Cricketspiele, Wahlkampfveranstaltungen, bei denen Premier Narendra Modi auftrat, hinduistische Feste mit mehreren Millionen Besuchern konnten so zuletzt leicht zu Superspreader-Events werden. Die Regierung hat diese Veranstaltungen nicht verboten, weil nationalistische und religiöse Hindus für sie die wichtigste Wählerbasis sind.


Wird sich die Lage zuspitzen?
Davon ist leider auszugehen. Die schlimmen Bilder, die wir jetzt von überlasteten Krankenhäusern sehen, stammen überwiegend aus den großen Städten. Rund 65 Prozent der Bevölkerung leben in ländlichen Regionen. Dort breitet sich das Virus jetzt auch aus. Auf dem Land ist die medizinische Versorgung noch viel schlechter als in den Städten. Hinzu kommt, dass die Pandemie mit Lockdown und Ausgangssperren noch sehr lange katastrophale wirtschaftliche Auswirkungen haben wird.
Hat die Regierung bei der Pandemiebekämpfung versagt?
Sie ist mit der Krise überfordert – wie fast jede Regierung der Welt. Eigentlich war ihr Kampf von Anfang an kaum zu gewinnen. Mit dem unterfinanzierten und oft maroden öffentlichen Gesundheitssystem konnte man einer solchen Herausforderung nicht Herr werden. Zwar wurden die Ausgaben für den Gesundheitsbereich zuletzt erhöht, aber man kann während einer Pandemie nicht nachholen, was in Jahrzehnten versäumt wurde.


Was muss die Regierung tun?
Sie muss die Impfstoffproduktion erhöhen, die Impfkampagne dramatisch beschleunigen, die jetzt eintreffende internationale Hilfe gezielt einsetzen und versuchen, die Ausbreitung durch das Einhalten der Vorsichtsmaßnahmen sowie durch zeitlich und regional begrenzte Lockdowns unter Kontrolle zu bringen.

Experte Christian Wagner
Experte Christian Wagner © SWP


Wäre nicht ein landesweiter harter Lockdown sinnvoll?
Das ist politisch und wirtschaftlich kaum durchsetzbar. In Indien arbeiten rund 90 Prozent der Beschäftigen im nicht-organisierten Sektor, oft haben sie dabei engen Kontakt zu anderen Menschen. Sie können nicht einfach zu Hause bleiben oder aus dem Homeoffice arbeiten. Da es keine mit Europa vergleichbaren sozialen Sicherungssysteme gibt, müssen die Menschen arbeiten, um zu überleben. Die Regierung steht vor dem Dilemma: Machen wir die Wirtschaft dicht, sterben die Leute am Hunger. Machen wir die Wirtschaft auf, sterben die Menschen am Coronavirus.
Wird die Coronakrise Indien in eine politische Krise stürzen?
Modi und seine nationalhinduistische Partei haben in den Vorjahren erfolgreich das Narrativ etabliert, dass der Premier ein engagierter Macher ist. Aber der Regierung ist es nicht gelungen, das Land besser auf die zweite Welle vorzubereiten. Modis Image kann so schwere Kratzer erhalten.