Überall in Europa wird über die Impfstrategie debattiert und gefragt, wo die Fehler liegen. Bei der EU oder in den Reihen der eigenen Regierung? Fest steht nur eins: Die Europäer hinken im Vergleich zu den USA, Großbritannien und Israel beim Impfen hinterher. Hinzukommen schlechte Nachrichten von Verzögerungen bei der Impfstofflieferung. Die EU droht jetzt dem Hersteller AstraZeneca mit Exportverbot, die Italiener denken sogar darüber nach, den britischen Pharmakonzern wegen Vertragsverletzungen zu verklagen, aber alle wirken machtlos angesichts der Big Pharma.

Gerade in Deutschland wird daran gezweifelt, ob die gemeinsame Ankaufstrategie der Europäer wirklich eine gute Idee war. „Die einzig richtige“, behauptet Anne Bucher. Die Französin, die bis vor wenigen Wochen Chefin der Brüsseler Generaldirektion für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit war, hält die Produktionsschwierigkeiten angesichts der Geschwindigkeit, mit welcher die Impfstoffe entwickelt wurden und jetzt produziert werden müssen, für „unvermeidlich“. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte habe die Pharmaindustrie gleichzeitig forschen und ihre Produktionskapazitäten auf- und ausbauen müssen. Im Gespräch mit der Kleinen Zeitung sagt Bucher: „Natürlich wurden Fehler gemacht, die die Spannungen erklären. Aber wir dürfen uns keine Illusionen machen: Die Impfstoffproduktion wird erst im zweiten und dritten Quartal richtig auf Hochtouren laufen.“ 

EU müsse Lehre daraus ziehen

Dennoch müsse die EU aus der Pandemie ihre Lehre ziehen, so Bucher. In einem Bericht für Pariser Think Tank TerraNova legt die Expertin dar, dass die EU im Bereich Gesundheit und Impfung keine eigene Industriestrategie entwickelt hat, ein Fehler, den sie jetzt teuer bezahlen muss. „Impfstoffe kann man nicht einfach importieren wie Paracetamol“, so Bucher. „Die EU war schlicht nicht so gut vorbereitet wie die Amerikaner, die bereits im Februar vergangenen Jahres massiv investiert haben. Die EU ist sehr viel später eingestiegen und mit deutlich bescheideneren Mitteln.“ In Zahlen heißt das: Washington hat im Februar zehn Milliarden Dollar in die „Operation Warp Speed“ gesteckt, Brüssel brachte etwas mehr als drei Milliarden Dollar auf, das allerdings erst im Sommer. Die amerikanischen Konzerne hätten dadurch zu einem Zeitpunkt in Produktionsstätten investieren können, als noch nicht klar war, ob die Herstellung eines wirksamen Vakzins gelingen würde.

Noch etwas erklärt den Vorsprung der Amerikaner: Die Europäer haben sich in den vergangen zehn Jahren aus der Förderung der Impfstoffforschung zurückgezogen. Zur Jahrtausendwende waren noch Zweidrittel der Vakzin-Forscher in der EU tätig, die an 60 Prozent der weltweiten Forschungsprojekte arbeiteten. Dann kam die Wende. Die öffentlichen Zuschüsse schrumpften innerhalb von sechs Jahren von 23,3 Millionen Euro im Jahr 2002 auf 1,9 Millionen 2008. In derselben Zeit haben die Amerikaner die Forschungszuschüsse mehr als verdreifacht. Sie stiegen von 13 auf 42,2 Millionen Euro im Jahr 2008. Die EU schaute passiv dabei zu, wie die USA für Talente attraktiv wurde. Brüssel müsse die Konsequenzen daraus ziehen und wieder mehr Geld in die Finanzierung der Impfforschung investieren, schlussfolgert Bucher in ihrem Bericht.

Die amerikanische Administration gründetet bereits 2006 angesichts der Angst vor Anthrax-Attacken und Grippeepidemien die biomedizinische Forschungsbehörde BARDA (Biomedical Advanced Research and Developpement Authority), in die jährlich 3,5 Milliarden Dollar fließen. Sie habe für ein bestimmtes „Ökosystem“ gesorgt, so Bucher, das Forscher aus Europa angezogen habe. Als erste Lehre aus der Pandemie steht eine solche Behörde inzwischen auch in der EU zur Debatte. Die so genannte HERA, das ist die Abkürzung für „Health Emergency Response Authority“, könnte in Europa dieselbe Rolle spiele wie die BARDA in den USA und nationale Gesundheitsstrategien zumindest ergänzen. 

Die Deutschen mögen sich mit dem Erfolg der Startup Biontech trösten, die Franzosen haben dafür keinen Anlass. Am Montag hat das Institut Pasteur angekündigt, die Arbeit an ihrem Corona-Impfstoff einzustellen. Die Pariser Forscher hatten gemeinsam mit dem österreichischen Hersteller Themis Bioscience, den der US-Riese Merck aufgekauft hat, an einem Impfstoff geforscht. 

Bestes Beispiel für das fehlende Umfeld in Frankreich ist Stéphane Bancel, der 2011 in die USA ging und Moderna übernahm. Bancel wird regelmäßig als reines Produkt der französischen Eliteausbildung präsentiert. Doch sein Vermögen, das inzwischen auf 4,1 Milliarden Dollar geschätzt wird, hätte er in Frankreich nicht ansatzweise machen können. Der Wirtschaftszeitung „Les Echos“ sagte Bancel kürzlich, amerikanische Investoren hätten 5 Milliarden Dollar zu einem Zeitpunkt investiert, da Moderna keinerlei Profit erwirtschaftete. In Europa, so der Franzose, wäre das nicht möglich gewesen.

Stärke der EU

Anne Bucher, die bis zum Herbst noch selbst an den Verhandlungen mit den Pharmakonzernen teilgenommen hat, sieht die Stärke der EU in der gegenseitigen Solidarität. „Wenn alle 27 Länder einzeln verhandelt hätten, wäre es nicht auszuschließen gewesen, dass eine große Zahl zumindest in der ersten Phase leer ausgegangen wäre. Darunter hätte auch Frankreich sein können.“ An dem Spiel der gegenseitigen Schuldzuweisung will sich die Französin deshalb nicht beteiligen. Die Behauptung, dass Franzosen mit Sanofi und Deutsche mit Curevac vor allem nationale Interesse hätten vorantreiben wollen, hält sie für übertrieben. „Natürlich spielen nationale Egoismen immer eine Rolle bei solchen Verhandlungen, aber es war sicher nicht der Leitfaden“, so Bucher. Im Mittelpunkt habe vielmehr das Bemühen um „ein vielversprechendes Portfolio von Herstellern“ gestanden, um das Risiko zu verteilen. Ein Blick auf das amerikanische würde beweisen, dass man sich nicht getäuscht habe. Beide stimmen weitgehend überein.