Die Krise ist vor allem für Menschen, die schon psychisch belastet waren, eine extreme Herausforderung. Doch wie lange halten psychisch Gesunde diese Ausnahmesituation durch?

GÜNTER KLUG: Wir hatten ja vor der Pandemie schon Probleme in unserer Gesellschaft: Die Arbeitswelt verändert sich sehr stark, es wird zunehmend auf Digitalisierung gesetzt, die Pandemie hat das noch verstärkt. Niemand weiß genau, wie viele Arbeitsplätze in Zukunft überhaupt noch gebraucht werden. Gleichzeitig sehen wir eine immer stärker werdende Individualisierung, die mit Einsamkeit einhergeht. Vor allem junge Menschen kommen, getriggert durch die Neuen Medien, in eine andere Kommunikationsstruktur, die schnell zu Einsamkeit führt. In den sozialen Medien sieht es nämlich so aus, als hätten alle anderen so ein tolles Leben, so viele Freunde – und man selbst hat das alles nicht. In der Folge ziehen die Betroffenen sich zurück, was dazu führt, dass sich auch deren Umfeld zurückzieht. Immer mehr Menschen leben alleine und haben immer weniger „reale“ soziale Kontakte.

Wirkt die Coronakrise hier nun als „Verstärker“?

Genau so ist es. Wenn Menschen eigentlich gut unterwegs sind, aber durch diese gesellschaftliche Veränderung schon vorbelastet waren, setzt sich die Krise nun „obendrauf“. Dadurch erleben wir nun Menschen, die sich sehr schwertun, aus der Krise und dem damit verbundenen Rückzug wieder herauszukommen. Sie bleiben quasi im Lockdown-Modus. Oder aber sie kippen in die andere Richtung: Das sind Menschen, denen alles wurst ist, die sagen: Ich tu, was ich will, ich feiere Partys. Sie vernachlässigen Ausbildung und Job und leben, als gäbe es kein Morgen. Wir treiben damit nicht nur auf eine sehr auf den engsten Kreis zurückgezogene Gesellschaft zu, ein Biedermeier hoch zwei sozusagen, sondern auch auf einen deutlichen Anstieg von psychischen Belastungen.

Müssen wir uns auf eine zweite Welle im Sinne der psychischen Erkrankungen vorbereiten?

Das müssen wir auf alle Fälle! Die psychische Last wird jetzt bereits bei jenen Menschen sichtbar, die vorher schon angeschlagen waren. Menschen, die vor der Pandemie psychisch gesund waren, merken nun, dass etwas anders ist. Es wird noch dauern, bis sich dieser Zustand zu psychischen Problem auswächst. Und die Verunsicherung wird noch stärker werden: Am Anfang der Pandemie gab es ein klares Vorgehen, doch jetzt gibt es sich ständig verändernde Regeln. Das verunsichert die Menschen – und die Verunsicherung wird durch Existenzprobleme noch einmal wesentlich verstärkt, denn die Entlassungswelle, die finanzielle Problematik wird ja erst so richtig kommen. Dann wird es auch Menschen, die jetzt noch stabil sind, schleudern.

Günter Klug, Psychiater
Günter Klug, Psychiater © (c) Carina Ott

Was sind Anzeichen dafür, dass man psychisch ins Trudeln kommt?

Die häufigsten Anzeichen sind Ängste und in der Folge ein starker sozialer Rückzug. Viele argumentieren das noch mit Covid-19, das Verharren im Lockdown-Modus kann aber schon eine psychische Folge sein. Die Diskussion ums Homeoffice spielt hier auch hinein: Manche wollen Homeoffice behalten, weil sie sich nicht mehr hinaustrauen. Andere sind froh, wenn sie in die Firma gehen können, denn das bietet Struktur und eine Trennung zwischen Arbeit und Privatleben. Homeoffice ist ja nicht nur gesund, man muss sehr gut darin sein, sich selbst Strukturen zu geben.

Wie geht es älteren Menschen, die als Risikogruppe de facto vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen waren?

Ältere Menschen wurden positiv ausgegrenzt: Vor lauter Angst, dass man sie ansteckt, zwingt man Ältere ins Außenseitertum. Höheres Alter hat ja sowieso mit Ausgrenzung zu tun, denn die Mobilität geht zurück, man verliert Freunde, man ist nicht mehr im Arbeitsleben – da braucht man schon ein gutes Selbstbewusstsein, um zu wissen, dass man ein wertvoller Teil der Gesellschaft ist.

Welche gesundheitlichen Folgen können Einsamkeit, finanzielle Sorgen oder das Gefühl des Ausgeschlossenseins haben?

All diese Dinge führen zu chronischem Stress. Und chronischer Stress macht psychisch und körperlich krank: Dadurch sinkt die Immunabwehr, in der Folge steigen Infektionen, Krebsraten, Schlaganfälle an. Ältere sind körperlich sowieso anfälliger, der Stress der Coronakrise verstärkt das weiter. Je länger der Stress andauert, desto massiver die Folgen: Ängste und Depressionen, bis hin zur Suizidalität. Die körperlichen Auswirkungen werden erst etwas später offensichtlich – doch das geht bis dahin, dass Alzheimer aggressiver verläuft oder die Fruchtbarkeit gestört ist. Chronischer Stress betrifft alle Bereiche der Gesundheit.

Wie lange kann man den Krisenmodus, in dem wir uns befinden, aushalten?

Das hängt davon ab, wie in der Öffentlichkeit damit umgegangen wird. Am Anfang beruhigten sich die Menschen relativ rasch, denn es gab klare Regeln und Orientierung. Doch nun ist der Fehler passiert, dass man von diesen klaren Regeln wegging, in jedem Land gibt es andere Regeln. Im Supermarkt muss ich eine Maske tragen, in anderen Geschäften nicht. Das verunsichert zusätzlich. Auf eine stabil schlechte Situation kann man sich einstellen, doch permanent neue Regeln schaffen Einzelne und Unternehmen nicht. Klare Regeln machen es leichter, schwierige Situationen zu meistern.

Doch die Pandemie verändert sich und damit auch die notwendigen Maßnahmen.

Das stimmt, doch es wäre besser, zum Beispiel in allen Geschäften eine Maskenpflicht zu haben, auch wenn es vielleicht übertrieben ist. So muss ich mich ständig informieren: Was gilt jetzt wo? Momentan geht es zu schnell hin und her.