Wann ist der richtige Zeitpunkt für welche Öffnungsmaßnahme? Ein Patentrezept scheint es nicht zu geben; zu vieles ist in Bezug auf das Corona-Virus noch unbekannt. Vor allem in jenen Ländern Europas, die stark von der Corona-Krise betroffen waren und viele Tote zu beklagen haben, schlägt man derzeit einen vorsichtigen Kurs ein. In den USA macht Präsident Trump trotz hoher Opferzahlen Druck auf eine rasche Öffnung. Vor allem in Lateinamerika und Russland steigen die Zahlen der Infektionen und Todesopfer derzeit stark. Weltweit wurden bisher 5,2 Millionen Infektionsfälle und rund 339.000 Todesfälle registriert.

Frankreich: Das Trauma sitzt tief

Zwei Wochen nach Beendigung des strengen Lockdowns herrscht in Frankreich immer noch Vorsicht vor. Denn das Trauma sitzt tief: Mit über 28.000 Toten gehört Frankreich zu den Ländern, die stark von der Epidemie betroffen waren. Aber alles weist auf ein Abflauen hin. Seit Aufhebung der Ausgangssperre ist das Land in zwei Zonen geteilt: Zur roten Zone gehören Paris und Umgebung, der Nordosten, das Elsass und die Bourgogne-Franche-Comté. Dort sind alle Parks und Mittelschulen geschlossen. Für alle Franzosen gilt, dass sie sich nicht weiter als 100 Kilometer Luftlinie vom Wohnort entfernen dürfen. Auch Restaurants und Cafés sind geschlossen.
Martina Meister

Italien: Kein Halten mehr: Italiener stürmen ihre Strände

Am ersten Wochenende seit Ende des Lockdowns haben freiheitshungrige Italiener die Urlaubsorte des Landes gestürmt; Tausende strömten in städtische Parks und Grünanlagen und trafen sich in Lokalen und Restaurants. Wegen Menschenansammlungen verhängte die Polizei saftige Strafen. Jugendliche versammelten sich vor den Pubs und Bars, die seit Montag wieder geöffnet sind; die meist trugen keinen Atemschutz, auch die Abstandsregeln wurden nicht eingehalten.
Die Zahl der Verstorbenen liegt in Italien seit Beginn der Pandemie insgesamt bei 32.735. Der Präsident der Lombardei, Attilio Fontana, drohte mit neuen Beschränkungen, sollten sich die Bürger nicht an die Vorsichtsmaßnahmen halten. Man könne die Opfer der vergangenen Monate nicht einfach zunichtemachen und eine Zunahme der Infektionen riskieren.
Die norditalienischen Adria-Badeortschaften bangen um die Sommersaison und werben um österreichische Touristen. Die Bürgermeisterin von Riccione, Renata Tosi, hat auf die italienische Regierung Druck gemacht, damit Österreicher nach Italien reisen dürfen. Die Italiener erhoffen sich ab 3. Juni mehr Reisefreiheit innerhalb der italienischen Grenzen. Ab diesem Datum können auch Ausländer wieder nach Italien reisen, ohne sich einer zweiwöchigen Quarantäne zu unterziehen.

Brasilien: Führungslos durch die Krise

Brasilien verzeichnet weiter einen atemberaubend steilen Anstieg der Infektions- und Todeskurve und taumelt führungslos
auf den schlimmsten Moment der Pandemie zu. Die politische Führung um Staatschef Jair Bolsonaro wirkt überfordert und realitätsfern. Der Bürgermeister der bevölkerungsreichsten Stadt des Landes, Bruno Covas, warnte, dass das Gesundheitssystem in São Paulo in spätestens zwei Wochen kollabiere. Auch immer mehr Ureinwohner erkranken. Wie die „Vereinigung der Ureinwohner“ meldet, sind bereits 38 indigene Völker betroffen. Bolsonaro hat zwei Gesundheitsminister innerhalb eines Monats verheizt, weil ihm die Maßnahmen nicht passten. Er will noch vor Erreichen des Höhepunktes der Pandemie die Wirtschaft wieder zu öffnen.
Klaus Ehringfeld

USA: Neuer Anstieg befürchtet

Am Mittwoch schwenkte auch Connecticut auf den Kurs des restlichen Landes ein. Der kleine Ostküstenstaat nahm als letzter einige der Beschränkungen zurück. Normalität ist damit längst noch nicht zurückgekehrt in die USA, aber der Trend geht nun überall im Land Richtung Wiedereröffnung.
Angesichts von mittlerweile mehr als 1,6 Millionen Infizierten und fast 95.000 Toten durch das Virus sehen die Amerikaner die Lockerungen durchaus kritisch. Aktuellen Umfragen zufolge erwarten drei Viertel der US-Bevölkerung nun einen stärkeren Anstieg der Fälle. Gleichzeitig drängt Präsident Trump auf ein schnelleres Herunterfahren der Beschränkungen.
Julian Heissler

Belgien: Nur langsam geht es zurück

Vor wenigen Tagen hat in Belgien Phase 2 der Lockerungen begonnen: Friseure haben (gegen Anmeldung) wieder Betrieb, man kann in Museen oder Zoos – allerdings nur mit reservierten Tickets. Zu Hochzeiten und Begräbnissen sind bis zu 30 Personen zugelassen, Sportteams mit maximal 20 Menschen dürfen im Freien trainieren. Restaurants und Bars bleiben aber noch zu. Das Land ist schwer von Corona getroffen, allerdings täuscht die hohe Zahl von fast 9500 Toten – von Beginn an wurden auch Verdachtsfälle und jene aus Altersheimen mitgezählt, für Forscher eine im Vergleich zu anderen Ländern „sehr realitätsnahe“ Auswertung. Phase 3 startet am 8. Juni.
Andreas Lieb

Großbritannien

Die Corona-Lage in Großbritannien ist weiter verworren. Selbst nach Regierungsangaben hält das Vereinigte Königreich mit mehr als 36.000 Toten in Westeuropa den traurigen Rekord. Andere Berechnungen gehen von über 55.000 Corona-Opfern aus. Wiewohl sich die Lage in den Krankenhäusern und speziell in London allmählich bessert, hat man im 24-Stunden-Zeitraum immer noch 3300 Neuansteckungen und 350 Tote registriert. Daher zögert die Regierung mit den Lockerungen. Die meisten Geschäfte sind noch geschlossen. Restaurants und Pubs wissen nicht, wann sie ihre Türen wieder öffnen können. Zugleich geriet Boris Johnsons wichtigster Berater unter Druck: Dominic Cummings hat mehrfach gegen den Lockdown der Regierung verstoßen.
Peter Nonnenmacher

Spanien: Die Ungeduld wächst

Erst waren es nur Proteste an Fenstern und Balkonen. Nun gehen immer mehr Menschen in Spanien gegen die Corona-Politik der Regierung auf die Straße. Das südeuropäische Land, in dem seit zehn Wochen die Mobilität der Bürger beschränkt ist, erlebt in diesen Tagen die bisher größten Demonstrationen seit Beginn des Ausnahmezustandes, der aber bis 6. Juni verlängert wurde. Die offizielle Zahl der Toten liegt bei etwa 28.600. Erst seit Anfang Mai dürfen Erwachsene wieder hinaus, um spazieren zu gehen. Premier Sánchez verweist darauf, dass sich die Lage täglich bessere – vor allem dank der Ausgangsbeschränkungen, die bereits erheblich gelockert wurden.
Ralph Schulze