Noch ehe am Montag einer der weltweit strengsten und längsten Lockdowns endete, war klar, dass Frankreich nicht mehr ganz dasselbe Land sein würde. Es ist jetzt zweigeteilt, wie auf einer Wetterkarte: Der Nordosten ist rot, der gesamte Westen, Mitte und Süden sind grün. In der roten Zone sind die Ansteckungszahlen noch immer hoch und die Intensivstationen ausgelastet. In diesen vier Regionen, von den Hauts-de-France im Norden über das Elsass bis nach Burgund, gelten trotz Ende der Ausgangssperre strengere Regeln als im Rest des Landes, auch die Mittelschulen werden erst später öffnen.

Die Nation erwacht mit angeknackstem Selbstbewusstsein aus 55 Tagen Tiefschlaf . Die Corona-Epidemie, die über 26.000 Todesopfer gefordert und das Gesundheitssystem an seine Grenze gebracht hat, hinterlässt politische Spuren. Zwei Drittel der Franzosen finden, so eine jüngste Umfrage, dass Präsident und Regierung „nicht auf der Höhe“ waren, und gehen mit Skepsis in die nächste Phase.

Dabei ist die Aufhebung des Lockdowns ein sehr vorsichtiges Vortasten in die neue Normalität. Nach 55 Tagen dürfen die Franzosen das Haus endlich wieder ohne Passierschein verlassen. Sie dürfen wieder Rad fahren, Sport treiben, Freunde und Familienmitglieder treffen, sofern diese privaten Gruppen die Zahl von zehn Teilnehmern nicht überschreiten. Geschäfte öffnen ab Montag, doch Restaurants, Kinos, Theater bleiben geschlossen. Dasselbe gilt für Strände. Bürgermeister können bestenfalls eine Ausnahmeregelung erwirken. In der roten Zone bleiben sogar Stadtparks und Naherholungsgebiete zu. Auch die neue Bewegungsfreiheit bleibt stark eingeschränkt. Frei bewegen darf man sich nur innerhalb seines Departements. Verlässt man dieses, darf man sich nicht über einen Radius von 100 Kilometern vom Wohnort entfernen, es sei denn, man kann „zwingende berufliche oder familiäre Gründe“ vorweisen.

Geschwundenes Vertrauen in die Politik

Das größte Kopfzerbrechen bereitet die Aufhebung der Sperre im Ballungsraum Paris, wo zwölf Millionen Menschen leben und 30 Prozent des Bruttosozialproduktes erwirtschaftet werden. Arbeitnehmer werden angehalten, weiter im Homeoffice zu arbeiten. Wer unbedingt an den Arbeitsplatz muss, darf die Metro und Nahverkehrszüge zu Stoßzeiten nur benutzen, wenn er eine Bescheinigung des Arbeitgebers vorweisen kann. Das große Misstrauen gegenüber Emmanuel Macron und seiner Regierung schlägt sich auch in 55 Klagen nieder, die bereits gegen den Regierungschef und einige Minister angestrengt werden. Es geht in allen Fällen um unterlassene Hilfeleistung, Gefährdung anderer, fahrlässige Tötung.

Der Vertrauensverlust in die Politik ist größer als in den USA oder Großbritannien, wo das Versagen der Politik viel eklatanter war. Womöglich schwindet dem Präsidenten sogar die bequeme Mehrheit im Parlament. Nachdem 18 Abgeordnete die Partei verlassen haben, wollen weitere 20 eine neue, parteiübergreifende Gruppe in der Nationalversammlung bilden.

Besonders heftig gestritten wurde über die schrittweise Schulöffnung. Unter der Voraussetzung, dass die Eltern einverstanden sind, hat am Montag der Unterricht für kleine Gruppen von Erst- und Zweitklasslern begonnen. Bürgermeister riefen zum Boykott auf. „In Frankreich muss man immer aus Prinzip dagegen sein“, sagt Erziehungsminister Jean-Michel Blanquer.

Woher rührt die chronische Unzufriedenheit?

Woher kommt diese chronische Unzufriedenheit? Mit Abstand betrachtet kann man tatsächlich sagen, dass die Regierung die Lage ganz gut in den Griff bekommen hat, trotz eines verheerenden Mangels an Tests und fehlender Masken. Vor allem ist es gelungen, die Epidemie, die offensichtlich sehr viel früher still vorangeschritten war, erfolgreich einzudämmen. Forscher haben inzwischen herausgefunden, dass sich eine eigene Mutation des Virus ab Mitte Jänner unbemerkt im Norden des Landes verbreitete. Bestätigt ist der Fall eines 53-jährigen Mannes aus dem Pariser Vorort Bobigny, der am 27. Dezember wegen einer Lungenentzündung behandelt wurde. Eingefrorene Proben seines Lungensekrets wurden im Nachhinein positiv auf Covid-19 getestet. Auch seine beiden Kinder waren krank.

Aber Erfolge will man in Frankreich nicht sehen, nur das Scheitern. Die Opposition, Marine Le Pen und ihr Rassemblement National, nutzt die Krise für Wahlkampf. Insgesamt ist die Stimmung spürbar schlecht. Der Demograph Emmanuel Todd, Enfant terrible unter den Intellektuellen, bezichtigt Macron „französischer Unbekümmertheit“. Der Schauspieler Vincent Lindon fragt in einem Video, das viral ging, wie Frankreich so tief stürzen konnte. Über Jahrzehnte habe es seine Spitäler entkernt, weshalb in der Krise keine andere Wahl blieb, als auf die „mittelalterliche Maßnahme der Ausgangssperre“ zurückzugreifen.

Ist dieser Pessimismus, sind die strengen Regeln der zweiten Phase womöglich eine Frage der Mentalität? Ja, findet der frühere grüne Europaabgeordnete Daniel Cohn-Bendit. Die französische Verfassung sei „paternalistisch“, die derzeitige Republik einer der autoritärsten Staaten überhaupt. Die Franzosen funktionierten nur nach dem Prinzip Drohung und Strafe. „Alle bewegen sich in diesem Rahmen“,so Cohn-Bendit im Magazin „L’Express“, „die Regierung, der Präsident der Republik, die Opposition, die Medien, die intellektuellen und künstlerischen Eliten: Immer müssen Köpfe rollen.“