Sitzungsprotokollen zufolge soll die EU-Kommission den EU-Staaten bereits Ende Jänner, einen Monat bevor die Corona-Krise in Europa eskalierte, Hilfe bei der gemeinsamen Beschaffung von Schutzmasken, Testkits und Beatmungsgeräten angeboten haben. Regierungsvertreter der Gesundheitsministerien sollen dies allerdings bei Sitzungen in Brüssel explizit abgelehnt haben, berichtet die Nachrichtenagentur Reuters.

Ausrüstung überschätzt?

Nur wenige Wochen später bestand in der EU aufgrund der Corona-Krise ein großer Mangel an medizinischer Ausrüstung, und die EU-Kommission schätzte den Bedarf in den EU-Staaten auf das Zehnfache des Normalbedarfs. Reuters zufolge hätten die Regierungen der EU-Staaten ihre Notlage möglicherweise noch verschlimmert, indem sie ihre Ausstattung überschätzt hätten. Trotzdem sei der Mangel an Ausrüstung auch auf die explodierende weltweite Nachfrage zurückzuführen. Zuvor hatte der "Standard" darüber berichtet.

Während in der chinesischen Provinz Hubei zwei Wochen zuvor fast 60 Millionen Menschen isoliert wurden, sagte ein Beamter der EU-Kommission am 5. Februar bei einem Treffen mit Diplomaten aus den Mitgliedsstaaten unter Ausschluss der Öffentlichkeit: "Die Dinge sind unter Kontrolle". Und weiters wurde nach dem Treffen Reuters zufolge festgehalten: "Die Mitgliedstaaten sind gut vorbereitet, die meisten haben Maßnahmen ergriffen."Das war nur zwei Wochen vor den ersten Coronavirus-Toten in Italien.

Grenzschließungen

Die EU-Regierungen begannen erst im März, den Ernst der Lage zu erkennen. Viele schlossen allerdings zunächst ihre Grenzen, was den Export von medizinischer Ausrüstung in Nachbarländer behinderte, anstatt dass sie sich - wie später von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kritisiert - auf das Gemeinsame konzentrierten. Auch Österreich handelte zunächst im Alleingang.

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) kritisierte erst kürzlich die EU im Zusammenhang mit der Corona-Krise. Er nahm Bezug auf das deutsche Exportverbot für Schutzausrüstungen, das von Berlin mittlerweile aufgehoben wurde. Kurz sagte in einem Interview, dass sich die EU nach der Corona-Krise "eine kritische Diskussion und Auseinandersetzung damit gefallen lassen" müsse. "Es kann nicht sein, dass wir zwei Wochen lang komplett auf uns allein gestellt darum kämpfen müssen, dass ein Lkw mit bereits von uns bezahlten und dringend benötigten Schutzmasken an der deutschen Grenze hängt, weiterfahren darf, und gleichzeitig unsere Kontrollen zu Italien kritisiert werden", so Kurz Ende März.

Niemand wollte Unterstützung

Ab Jänner soll die EU-Kommission einem Sprecher zufolge den Mitgliedsstaaten die Möglichkeit der Unterstützung angeboten haben, berichtet Reuters weiter. Laut Protokoll sei aber keine Hilfe bei der Anschaffung von medizinischer Ausrüstung benötigt worden: "Bisher hat noch kein Land um Unterstützung gebeten, um zusätzliche Gegenmaßnahmen zu erhalten", so das Protokoll. Vier nicht genannte Staaten warnten davor, dass sie möglicherweise Schutzausrüstung benötigten, falls sich die Situation in Europa verschlechtern sollte.

Am 28. Februar, einen Monat nach dem ersten Hilfsangebot der EU und nach zwei weiteren Sitzungen, startete die Europäische Kommission ein gemeinsames Beschaffungsprogramm für medizinische Schutzausrüstung, wobei es zunächst Anlaufschwierigkeiten gab. Am 24. März teilte die EU-Kommission mit, dass die EU-Länder auf Nachschub an dringend benötigter Schutzkleidung hoffen dürften. Die für 25 EU-Staaten gemeinsam ausgehandelten Verträge seien unterschriftsreif. Am 26. März war der Nachschub an Schutzkleidung nach Angaben von von der Leyen gesichert. Doch warnte die EU in ihrer jüngsten Bewertung laut Reuters, dass bis Mitte April kein Land über genügend Intensivbetten mehr verfügen würde.

Kritik der Opposition

"Wir müssen dringend aufklären, wie es dazu kommen konnte, dass die nationalen Regierungen COVID-Hilfe durch die EU-Kommission verhindert haben", sagte Neos-Europaabgeordnete Claudia Gamon am Donnerstag. "Die Mitgliedsstaaten haben mit ihren Alleingängen und ihrer Kurzsicht Gesundheit und Leben ihrer Bürgerinnen und Bürger aufs Spiel gesetzt."

SPÖ-Europaabgeordneter Günther Sidl kritisierte in einer Aussendung das Vorgehen als "offenbar bewusst falsches Spiel auf Kosten der Gesundheit der Bevölkerung", insbesondere hinsichtlich der heftigen Kritik an der EU von Regierungschefs wie Bundeskanzler Kurz. "So einfach lässt sich die Schuld der anfänglich zögerlichen Bekämpfung des Coronavirus nicht auf die EU schieben."

SPÖ-Gesundheitssprecher Philip Kucher sagte: "Man kann Geschehens nicht ungeschehen machen, aber man kann - auch jetzt noch - daraus lernen. Die Lektion muss sein, den Kampf gegen Corona zentral zu koordinieren und zu steuern - sowohl in Österreich, als auch in der EU."