Die gestrigen Bilder aus Kabul glichen jenen der letzten Tage. Noch immer herrsche Chaos rund um den Flughafen. Viele Menschen versuchen, verzweifelt das Land noch zu verlassen, bevor die Taliban endgültig die Macht übernehmen.

Angaben darüber, wie viele Menschen bereits in Sicherheit gebracht werden konnten, gehen auseinander, die Rede ist von 2000 bis 4000, hauptsächlich ausländisches Botschaftspersonal. Nun mehren sich aber die Zweifel, dass auch der Großteil der Ortskräfte aus dem Land gebracht werden kann. Zudem machte sich erster Widerstand breit. Bei ersten Protesten gegen die Taliban in Jalalabad wurden unterdessen drei Menschen getötet.

Noch bevor das letzte Flugzug Kabul verlassen hat, steigt in Europa schon die Angst vor einer neuen Flüchtlingswelle. Tatsächlich ist die Zahl der Binnenflüchtlinge Anfang Mai, also dem Beginn des Abzugs der internationalen Truppen und mehrerer Offensiven der Taliban, massiv gestiegen. Erst waren die Menschen aus den Bezirken in die Provinzhauptstädte geflohen, als zuletzt die Kämpfe auch in den Städten begannen dann noch einmal viele weiter in die Hauptstadt Kabul. Bis Anfang August verließen laut UNO 390.000 Afghanen ihre Dörfer und Städte wegen Gefechten.

Es ist unklar, wie sich die Fluchtbewegungen nach der faktischen Machtübernahmen der Taliban entwickeln werden. Eine Flüchtlingswelle wie 2015 erwartet Migrationsforscher Bernhard Perchinig allerdings nicht. Damals seien auch die Flüchtlinge zum größten Teil nicht direkt aus Afghanistan nach Europa gekommen, sondern aus Ländern wie dem Iran oder Pakistan, wo sie sich davor jahrelang aufgehalten hätten. "Es sind andere soziale Gruppen, die jetzt fliehen. Urbane Menschen, die westlicher orientiert sind und sich somit vor den Taliban in Sicherheit bringen wollen", sagt Perchinig.

Das würde die Terrormiliz vor das Problem stellen, dass sie ihre gebildete Schicht verlieren könnte – und eben das würde sie laut dem Migrationsforscher versuchen zu verhindern. Die Bereitschaft in der Region Flüchtlinge aus Afghanistan aufzunehmen, ist zudem nicht besonders groß. Tadschikistan errichtet ein Lager. Pakistan, wo laut UNHCR bereits rund 1,4 Millionen Afghanen als Flüchtlinge leben, schottet sich vermehrt ab. Der Iran kämpft mit der Corona-Pandemie. Es gilt daher als unwahrscheinlich, dass die Regierung viele Afghanen ins Land lassen wird.

Türkei: Grenzmauer soll die Flüchtlinge stoppen

Dem türkischen Volk soll gezeigt werden, dass die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan auf den Unmut der Wähler über die steigende Zahl von Flüchtlingen aus Afghanistan reagiert. Eine Grenzmauer soll sie stoppen: „Wir schneiden ihnen den Weg ab“, so Verteidigungsminister Hulusi Akar. Drei Meter hoch, 2,70 Meter breit und sieben Tonnen schwer sind die stacheldrahtbewehrten Betonmodule, die derzeit an der türkisch-iranischen Grenze aufgestellt werden. Ein vier Meter tiefer Graben, Wachtürme, Wärmebildkameras und Aufklärungsdrohnen gehören ebenso zum Grenzregime. Knapp 160 Kilometer lang ist die Mauer bereits. Nun soll sie zügig auf 300 Kilometer erweitert werden. Seit fünf Jahren baut die Türkei außerdem an ihrer Grenze zu Syrien an einer Mauer, die sich inzwischen fast entlang der gesamten Grenze von 900 Kilometern erstreckt. Auch an der Grenze zum Irak begann der Mauerbau: Die Türkei schottet sich nach Süden und Osten ab. An der iranischen Grenze haben türkische Truppen nach Angaben von Akar seit Jahresbeginn rund 62.000 Flüchtlinge aufgehalten und zurückgeschickt. Mit der Mauer wächst auch die Bedeutung der Türkei für die EU als Torwächter in der Flüchtlingsfrage.

Susanne Güsten, Istanbul

Griechenland: Hellas will nicht Einfallstor sein

Nach dem Fall von Kabul wächst in Griechenland die Sorge vor einer neuen Flüchtlingswelle aus Afghanistan. Die Regierung in Athen setzt auf Sicherung der Grenzen zur Türkei und fordert eine neue Migrationspolitik der EU. Notis Mitarakis, Minister für Migrations- und Asylpolitik, ist kategorisch: "Es ist völlig klar, dass unser Land nicht das Einfallstor einer neuen Flüchtlingswelle sein wird", sagte Mitarakis im TV-Sender "Open". Die seit zwei Jahren in Athen amtierende konservative Regierung von Premier Kyriakos Mitsotakis hat die Überwachung der See- und Landgrenzen zur Türkei erheblich verschärft. Griechenland habe "in den vergangenen zwölf Monaten gezeigt, dass wir unsere Grenzen sichern können". Mitarakis erinnert daran, dass noch 2019 rund 72.000 Migranten über die Ägäis und die Landgrenze aus der Türkei nach Griechenland kamen. In den ersten sieben Monaten dieses Jahres waren es nach Angaben des Migrationsministeriums nur noch 4176, gegenüber 10.437 im Vorjahreszeitraum. Nach Schätzungen kommen derzeit täglich etwa 1000 Flüchtlinge aus Afghanistan in die Türkei. Die meisten wollen weiter nach Europa. Deshalb könnte der Migrationsdruck an der türkisch-griechischen Grenze wachsen.

Gerd Höhler, Athen