Mit einer klaffenden Wunde am Bein sitzt die Frau auf einem Sessel. Sie ist eine von Tausenden, die bei dem schweren Erdbeben am Samstag in Haiti verletzt wurden. Jetzt befindet sie sich in einer Ecke der Notaufnahme in Les Cayes. "Diese Frau wartet schon eine ganze Weile darauf, dass ich ihre Wunde nähe. Aber im Moment habe ich keine Schale für das Besteck" sagt der Arzt Rudolphe Steven Jacques. Das Krankenhaus ist völlig überlastet, es fehlt an Material.

In und um die Klinik in der Stadt nahe des Epizentrums kauern Verletzte auf Sesseln, liegen auf Bänken oder einfach auf dem Boden und hoffen auf Hilfe. "Zum Zeitpunkt des Bebens gab es hier nur drei Ärzte", sagt Michelet Paurus. Er war einer von ihnen. "Inzwischen wird es besser, wir haben Verstärkung durch Orthopäden, Chirurgen und 42 Assistenzärzte bekommen, die auf die Krankenhäuser der Region verteilt werden."

Ärzte und Patienten drängen sich in den kleinen Behandlungszimmern. "Es kommen immer noch mehr Verletzte aus entlegenen Gebieten. Damit hatte ich nicht gerechnet", sagt der junge Arzt Jacques, der aus der Hauptstadt Port-au-Prince angereist ist, um den Erdbebenopfern zu helfen. "Wir geben unser Bestes, um die Menschen zu versorgen", sagt der 26-Jährige.

Fast 1.300 Tote wurden bis Sonntagabend geborgen, mehr als 5.700 Menschen sind verletzt. Die Zahlen dürften noch steigen.

"Als die Erde bebte, wurde ich durch die Luft geschleudert und bin auf meinem Arm gelandet", erzählt Venel Senat. "Nachbarn sind gekommen und haben mir geholfen, ein Taxi zu bekommen. Ich war in mehreren Krankenhäusern, aber sie waren alle überfüllt. Heute in der Früh bin ich hierhergekommen und man hat sich endlich um mich gekümmert." Senat wurde geröntgt und bekam einen Gips - "kostenlos", wie er betont. Nun wartet er noch auf seine Medikamente, denn die Apotheke der Stadt ist seit dem Beben geschlossen.

Patienten liegen im Freien

Viele Patienten müssen nach der Behandlung zur Beobachtung bleiben. Viele von ihnen warten lieber auf dem Rasen im Freien als im Krankenhaus - aus Angst, es könnte bei einem Nachbeben einstürzen. "Aber heute Nacht wird es regnen", sagt Klinikarzt Paurus, während er von einer Abteilung zur nächsten hetzt. "Wir werden versuchen, sie in diesen Raum zu bringen, denn das Dach ist aus Blech. Für die Kinder auf der Kinderstation werden wir Zelte im Innenhof aufstellen.

Während die Hilfe für die Verletzten, Traumatisierten und Hinterbliebenen des Erdbebens gerade erst anläuft, droht bereits die nächste Naturkatastrophe. Meteorologen warnen vor Starkregen, heftigem Wind und Schlammlawinen durch den Tropensturm "Grace", der am Montagabend erwartet wurde.

"Wenn es so viel regnet wie vorhergesagt, wissen wir wirklich nicht, was wir tun sollen", sagt Paurus. "Ein Schlag nach dem anderen - wir können nicht mehr."