Gordie Sebastien wird seinen ersten Schultag nie vergessen. Sebastien ist fünf Jahre alt, als ihn seine Großmutter vor einem hohen Eisentor absetzt. Ein letzter Gruß, ein letztes Händedrücken, eine kurze Umarmung, dann verschwindet Sebastien in einem mächtigen Backsteinbau mit einem Glockenturm und einem Kreuz auf dem Dach.
Drinnen muss er sich nackt ausziehen. Dann schert ein Helfer sein dunkelblondes Haar und überschüttet ihn mit Desinfektionsmittel. Sebastien ruft nach seiner Oma. Vergeblich.


Über ein halbes Jahrhundert ist das her, aber Sebastien schildert es so lebhaft, als wäre es gestern gewesen: „Es war so entwürdigend. Vom ersten Tag an haben sie uns erniedrigt, geschlagen und misshandelt.“


Sebastien gehört zum Volk der Ktunaxa, einem indigenen Volk aus Kanada. Von 1957 bis 1968 musste er ein spezielles Internat für Ureinwohner besuchen, wie viele Indianerkinder. Die „St. Eugene Mission Residential School“ im St. Mary’s Reservat in Britisch Kolumbien gehörte dazu: Betrieben von der Kirche, finanziert vom Staat.


In „Residential Schools“ wurde den Ureinwohnern das Lesen und Rechnen gelehrt. Den Kindern sollte dort aber vor allem ihre indigene Kultur und Sprache genommen werden, um sie in der weißen Gesellschaft zu assimilieren. Über ein Jahrhundert lang war das gängige Praxis. Das letzte Indianer-Internat schloss 1996. Die Klassen besuchten 150.000 Schüler, 60.000 sind noch am Leben.


Gordie Sebastien ist heute über 60 und steht vor dem Eisentor zum Schulgelände. Er trägt eine Baseballmütze, eine Fleece-Jacke und Jeans. Seine Schule wurde 1970 geschlossen, das Gebäude steht noch. Viele Jahrzehnte kam es hier zu schlimmen Szenen: köperlicher und seelischer Gewalt, Misshandlungen, sexuellem Missbrauch, Todesfällen gar. Sebastien war neun, als er im Unterricht einmal lachen musste. Ein folgenschweres Versehen. Ein Lehrer schlug ihn mit einem Lederriemen. Ein Helfer stieß ihn die Treppe hinunter.


„Man hat den Indianer gewaltsam aus mir herausgeprügelt“, sagt Sebastien. Die eigene Muttersprache war ihm untersagt. Kontakt zu den Eltern oder Großeltern war unerwünscht. Sie durften ihre Kinder einmal im Monat besuchen.


Am schlimmsten war die Gewalt. Ein Mitschüler wurde so sehr gezüchtigt, dass er zwei Wochen mit gebrochenen Knochen im Bett lag. Erst als die Prellungen verheilt waren, durfte er ins Spital. Ein anderer wurde zwei Tage lang nackt in einen Kleiderschrank gesperrt.
Sebastien erinnert sich auch an sexuelle Gewalt, reden will er darüber nur bruchstückhaft: „Wir alle kannten Opfer, Mädchen und Jungen. Manchmal sind wir stundenlang bei ihnen gesessen, um sie zu trösten.“
Laut Schätzungen starben in den Internaten 6000 Kinder, die meisten von ihnen an Krankheiten wie Tuberkulose. Manche starben auch an den Folgen der Gewalt, Fehlernährung oder Einsamkeit und wurden anonym am Areal verscharrt.


Vorige Woche fand man die Überreste von 215 Kinderleichen auf dem Gelände eines Ex-Internats in der Stadt Kamloops.Es versetzte das Land in Schock und Scham. An vielen Regierungsgebäuden wehen die Flaggen seither auf halbmast. Nicht wenige Überlebende nahmen sich später das Leben. „Jeden Tag wurde uns eingehämmert, wie schlecht wir sind, und irgendwann haben wir es geglaubt“, so Sebastien.
Eine staatliche Versöhnungskommission hat die Vorfälle aufgearbeitet. Im Abschlussbericht 2015 nannte sie die Vorfälle „kulturellen Völkermord“. Die Regierung hat sich entschuldigt und Entschädigungen gezahlt. Auch der Papst hat die Vorfälle bedauert. Trotzdem gibt es in den Indianergemeinden bis heute mehr Selbstmorde, kriminelle Vorfälle und Drogendelikte als im Rest Kanadas.


Im St.-Mary’s-Reservat haben sie lange diskutiert, was mit dem Schulgebäude passieren soll. Irgendwann hatte es der Staat in die Obhut der Ktunaxa übergeben. Die Frage hat auch Sophie Pierre umgetrieben. Auch sie war neun Jahre dort und wurde später Häuptling ihres Stamms. „Viele von uns wollten das Gebäude abreißen. Wir wollten den Schmerz tilgen, für immer. Dann haben wir doch anders entschieden.“

Aus dem Ort der Schande wurde ein Hotel

An den Backsteinwänden hängen alte Fotos: Indianerkinder bei der Osterprozession, beim Schulsport, in Schuluniform. Wo einst Indianerkinder verprügelt und vergewaltigt wurden, erholen sich heute Touristen. Nebenbei haben hier 50 Stammesangehörige einen Job gefunden. Gordie Sebastien, der hier einst seine dunkelblonden Haare lassen musste, ist Nachwächter. „Ich bin stolz, dass wir etwas Schreckliches in etwas Schönes verwandelt haben“, sagt er. In der Lobby hängt ein Schild, darauf das Motto des Stamms: „In diesem Gebäude wurde uns unsere Kultur geraubt. Nur in diesem Gebäude können wir sie zurückerlangen.“