Rote Petunien-Blüten an Hotelbalkons tragen Trauer und Regentropfen fallen wie Tränen auf die üppig blühenden Rosenbüsche in Stresa. „Es ist absurd“, sagt ein drahtiger Mittsiebziger an der Bar neben der geschlossenen Talstation nach dem schweren Seilbahnunglück. Der Zugang ist mit Siegeln der Staatsanwaltschaft Verbania verklebt. Die Bewohner des Ferienparadieses mit der Seilbahn, die Urlauber vom Ufer des Lago Maggiore mit traumhaftem Ausblick aus weiß-roten Gondeln in zwanzig Minuten auf den fast 1500 Meter hohen Monte Mottarone bringt, sind nach dem Unglück fassungslos.

Eine olivgrüne Plastikplane schützt am Tag nach dem Absturz die geborstene Gondel vor dem unerbittlichen Regen. Nach dem Aufprall rutschte die Kabine auf dem steilen Abhang nach unten, bis sie gegen zwei Bäume prallte und auseinanderbrach.

Fünfjähriger überlebte als Einziger

Der einzige Überlebende, ein fünf Jahre alter Junge, kämpft in einem Krankenhaus in Turin nach einer fünftstündigen Operation um sein Leben. Die Bürger von Stresa halten zum Gedenken an die 14 Opfer, darunter den zweijährigen Bruder des Jungen, am Mittag 14 Minuten inne.

„Das hätte nicht passieren dürfen“, sagt die Bürgermeisterin von Stresa, Marcella Severino, mit schwarzer Atemmaske und schwarzem Regenhut. „Das wichtigste ist jetzt, den Familien nah zu sein.“

Ermittlungen laufen

Hinter den abgesperrten Zufahrtswegen zur Seilbahn laufen die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Verbania auf Hochtouren, um die Unglücksursache festzustellen. „Es waren vermutlich zwei Probleme gleichzeitig“, vermutet Matteo Gasparini von der örtlichen Bergrettung. Ersten Rekonstruktionen zufolge riss kurz vor der Ankunft der Gondel an der Bergstation das Tragseil. Die für diese Fälle vorgesehene Notbremse wurde nicht ausgelöst. Diese Vorrichtung legt automatisch bei einem Seilriss Bremsbacken um das Tragseil und bringt die Kabinen zum Stehen. Stattdessen nahm die Gondel rasch Fahrt auf, knallte gegen einen Stützpfeiler und sprang aus dem Tragseil. „Wir wissen nicht, warum sie nicht aktiviert wurde, während sie bei der unteren Kabine funktioniert hat“, sagt Gasparini. Dabei waren die Stahlseile erst im November elektromagnetisch durchleuchtet worden. „Ich verstehe das nicht, die Seilbahn wurde ständig kontrolliert“, sagt ein Mitarbeiter eines Hotels an der Talstation, der die Arbeiter verschiedener Wartungsfirmen kommen und gehen sah.

Das einzigartige Ferienparadies, dessen Gäste den Lago Maggiore mit idyllischen Inseln und ein atemberaubendes Bergpanorama bietet, sorgt sich um seine Zukunft. „Gäste aus dem Ausland haben sich sofort gemeldet und ihre Anteilnahme ausgedrückt“, erzählt eine Mitarbeiterin des Hotel Flora gerührt. Doch ohne die Seilbahn, die auf absehbare Zeit stillgelegt wird, verliert Stresa eine seiner Hauptattraktionen. Um mühelos vom Ufer mit seinen Palmen bis auf 1500 Meter Höhe zu gelangen, kamen Touristen aus ganz Europa und wanden sich von der Autobahn die enge Straße zwischen hohen Steinwänden bis ans Ufer hinab.

„Es ist ein Desaster, wir leben hier vom Tourismus“, sagt der drahtige Mittsiebziger in der Bar an der Talstation der Seilbahn. „Dabei hatten die Hotels gerade erst wieder geöffnet.“ Ein anderer erinnert mit Schrecken an den Wettlauf auf dem Monte Mottarone, zu dem zwei Wochen vor dem Absturz über 1000 Teilnehmer mit ihren Familien anreisten. „Da hätte das Unglück vielleicht noch mehr Menschen in den Tod gerissen.“

Nur 15 Menschen waren in der Gondel

In der für 35 Personen ausgelegten Gondel befanden sich zum Zeitpunkt des Unglücks nur 15 Menschen, unter ihnen auch die aus Israel stammende Familie des einzigen Überlebenden. Seine Urgroßeltern waren nach der Corona-Impfung nach Italien gereist, um Zeit mit ihren Enkeln und Urenkeln zu verbringen. „Was soll uns schon in Italien passieren“, hätten sie gesagt, berichtet die Tante des Jungen im Krankenhaus.

Infrastrukturminister Enrico Giovannini kündigte unterdes eine Untersuchungskommission an, die parallel zur Staatsanwaltschaft die Ursachen des Unglücks klären soll. In Stresa legen sich derweil Nebel und Regen über die Trümmer der an einem sonnigen Frühlingssonntag abgestürzte Gondel.