Die EU schraubt ihr Klimaziel für 2030 deutlich in die Höhe: Bis dahin sollen innerhalb der Europäischen Union 55 Prozent weniger Treibhausgase produziert werden als im Jahr 1990. Bisher war das Ziel minus 40 Prozent. Auf die neue Marke einigte sich der EU-Gipfel in Brüssel Freitagfrüh nach einem langwierigen Streit mit Polen, der die ganze Nacht dauerte. Polen trug das neue Ziel mit - erstritt dafür aber zusätzliche Zusagen für finanzielle Hilfen bei der Energiewende.

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) zeigte sich erfreut über das Ergebnis: "Ich bin froh, dass es uns nun fünf Jahre nach Abschluss des Pariser Klimaabkommens gelungen ist, Einigung auf ein neues Klimaziel für 2030 zu erreichen." Gleichzeitig betonte er, dass auch die Wirtschaft nicht vergessen werden dürfe: "Parallel dazu müssen Maßnahmen gesetzt werden, um die Wettbewerbsfähigkeit in Europa zu erhalten. Es muss verhindert werden, dass europäische Unternehmen in Zukunft abwandern und anderswo unter schlechteren Standards produzieren und somit in Europa Arbeitsplätze vernichtet werden. Dazu bekennt sich der Europäische Rat in aller Klarheit."

Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) nannte das Ergebnis einen "wichtigen Schritt für die Zukunft Europas". Kogler: "Vor einem Jahr hätte ein solch ambitioniertes Ziel niemand für möglich gehalten. Das wird auch die notwendige Rolle Europas als Vorreiter im Klimaschutz stärken." Auch Klimaschutzministerin Leonore Gewessler (Grüne) begrüßte die Vereinbarung: "Diese Einigung ist ein dringend notwendiger Schritt, um die Klimakrise abzuwenden. Jetzt müssen dem Beschluss Taten folgen. (...) Das bedeutet auch: Es sind nun alle Mitgliedstaaten gefordert, ihren Beitrag zu leisten", so Gewessler in einer Aussendung.

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel zeigte sich erleichtert über den Beschluss. Dafür habe sich eine durchwachte Nacht gelohnt, sagte sie zum Abschluss des Gipfels. Deutschland, das in der EU noch bis zum Jahresende die Ratspräsidentschaft führt, hatte das 55-Prozent-Ziel unterstützt. Ratschef Charles Michel sagte: "War es leicht? Nein, das war nicht leicht." Er sei sehr froh, dass doch noch Einigkeit erzielt worden sei.

Zu ambitioniert, zu wenig ambitioniert

Industrieverbände sehen die Verschärfung als sehr ehrgeizig. Sie ist verbunden mit hohen Milliardeninvestitionen. Die Industriellenvereinigung (IV) bedauert, dass bei der Verschärfung der EU-Klimaziele vorerst nicht geklärt worden ist, "dass der bestehende Carbon Leakage-Schutz für die produzierende energieintensive Industrie auch in Zukunft abgesichert bleibt", so IV-Präsident Georg Knill. Die Industrie müsse Teil der Klima-Lösung sein. Dass sich Kurz beim EU-Gipfel "für einen realistischen klimapolitischen Ansatz" eingesetzt habe, sei "hervorzuheben". Der Präsident der europäischen Wirtschaftskammer "Eurochambres", Christoph Leitl, nannte das vom EU-Gipfel beschlossene 55-Prozent-CO2-Reduktionsziel bis 2030 "unrealistisch" und "Wunschdenken".

Umweltschützer und Grünekritisieren hingegen, dass zum Stopp der gefährlichen Überhitzung der Erde viel mehr nötig wäre - mindestens minus 65 Prozent. Greenpeace kritisierte die Erhöhung des EU-Klimaziels auf minus 55 Prozent Netto-Emissionen bis 2030 als "unzureichenden Kompromiss auf Kosten der kommenden Generationen". Die Umweltorganisation warf Kurz vor, er sei bei den Bremsern gewesen. Die Umweltschutzorganisation WWF Österreich bewertete die Einigung als "mutlosen Kompromiss auf Kosten der Zukunft". "Global 2000" hält eine CO2-Reduktion um mindestens 65 Prozent als "machbar und notwendig".

Die neue Marke soll noch vor Jahresende an die Vereinten Nationen gemeldet werden. Dies ist nach dem Pariser Klimaabkommen von 2015 so vorgesehen.

Für die EU ist es eine Etappe auf dem Weg, bis 2050 klimaneutral zu werden, also alle Treibhausgase zu vermeiden oder zu speichern. Nötig sind in den nächsten Jahren unter anderem eine schnelle Abkehr von Kohle, Öl und Gas, ein rascher Umstieg auf Ökostrom und Fahrzeuge ohne Abgase sowie die Renovierung von Millionen Häusern. Die Milliardeninvestitionen sehen Befürworter auch als Chance für neue Jobs und Wohlstand.

Visegrad-Blockierer

Polen und andere EU-Staaten im Osten sind bisher noch stark auf Kohle angewiesen. Bei der Energiewende haben sie deshalb einen weiteren Weg zurückzulegen. Sie pochen auf finanzielle Unterstützung. Dafür sind Milliardentöpfe geplant: ein Modernisierungsfonds, der aus Einnahmen aus dem Emissionshandel gespeist wird; ein Fonds für gerechten Wandel, aber auch der 750 Milliarden schwere Corona-Aufbaufonds, der zu mindestens 30 Prozent zur Umsetzung der Klimaziele genutzt werden soll.

Der polnische Ministerpräsident Tadeusz Morawiecki sagte nach dem Gipfel, sein Land werde höhere Beträge aus dem Fonds bekommen als zunächst geplant. Polen erhalte mehr als 50 Milliarden Euro für eine "gerechte, angemessene Transformation" des Energiesektors und der Wirtschaft.

Das Haushaltspaket war zuletzt wegen eines Vetos durch Ungarn und Polen blockiert. Eine Einigung im Haushaltsstreit bahnte beim Gipfel auch den Weg für den Klimabeschluss. Polen erstritt darüber hinaus die Zusage, dass die Staats- und Regierungschefs im Frühjahr noch einmal Vorgaben für die genaue Umsetzung des Ziels machen können. Dann soll auch besprochen werden, wer wie viel dazu beitragen muss.

Das Pariser Klimaabkommen von 2015 sieht vor, dass die Erderwärmung bei unter zwei Grad gestoppt wird, möglichst sogar bei 1,5 Grad, gemessen jeweils an der vorindustriellen Zeit. Dafür reichen die bisherigen Zusagen der rund 190 Mitgliedsstaaten aber nicht. Deshalb ist im Vertrag vorgesehen, dass alle fünf Jahre nachgebessert wird.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nannte 2030 einen wichtigen Zwischenschritt im Kampf gegen den Klimawandel: "Jetzt beginnt ein klarer Weg hin auf die Klimaneutralität 2050." Dies werde die wirtschaftliche Entwicklung der Gemeinschaft bestimmen: "Der Green Deal wird unsere Wachstumsstrategie sein."