Herr Karg, wie schwerwiegend schätzen Sie als Experte bei Greenpeace die derzeitige Situation im Amazonas-Gebiet ein?
Jens Karg: Die Situation ist dramatisch. Zwischen Januar und August gab es nach offiziellen Angaben 72.843 Waldbrände in Südamerika, Stunde um Stunde frisst sich das Feuer in die grüne Lunge unseres Planeten. Die Dimension ist derart groß, dass man die Rauchschwaden selbst aus dem Weltall beobachten kann, wie die Satellitenaufnahmen der Nasa zeigen.

Welche Areale sind am schlimmsten betroffen?
Karg: Laut unseren Informationen wüten etwa die Hälfte der Feuer in der Amazonasregion und rund 30 Prozent im angrenzenden und ebenso wichtigen Ökosystem des Cerrado. Betroffen sind vor allem die Bundesstaaten Roraima und Rondônia, Brände werden aber auch aus Mato Grosso und Pará gemeldet – und aus den Nachbarländern Paraguay und Bolivien.

Zuletzt gab es Berichte über Regen - ist damit die Lage in irgendeiner Form entschärft?
Karg: Von unseren brasilianischen Greenpeace-Kolleginnen und Kollegen vor Ort erhalten wir keinerlei Meldungen, die auf eine Entschärfung schließen lassen.

Lassen sich die Brände realistischerweise von Menschenhand wieder eindämmen?
Karg: Es ist eine enorme Anzahl an Bränden an vielen unterschiedlichen Orten, die Herausforderung ist zweifelsohne groß. Allerdings ist es auch nicht ungewöhnlich, dass der Amazonas brennt. Aber dieses Jahr haben die Brände relativ früh begonnen und ein enormes Ausmaß angenommen. Wir müssen alles daran setzen, dass die Brände eingedämmt werden und vor allem keine neuen entstehen.

Was sind die Ursachen für die Brände? Warum treten sie gerade jetzt so massiv auf?
Karg: Waldbrände haben im Amazonas-Regenwald eine traurige Tradition. Die meisten von ihnen werden von Bauern und Viehhaltern gelegt, um Acker- und Weideland zu gewinnen. Der Eindruck unserer Greenpeace-Kollegen vor Ort ist, dass diese durch die Reden und die Aktionen der Regierung von Bolsonaro geradezu ermutigt wurden. Seit seinem Amtsantritt ist die Umweltpolitik des Landes geradezu demontiert worden.

Greenpeace-Experte Jens Karg
Greenpeace-Experte Jens Karg © (c) AP (Ronald Zak)

War den Brasilianern selbst ihr Regenwald bislang nicht wichtig?
Karg: Da stellt sich jetzt die Frage, wer die Brasilianer sind. Die indigene Bevölkerung ist untrennbar mit dem Wald, in dem sie leben, verbunden. Sie wissen, dass ihre Aufgabe das Bewahren des natürlichen Lebensraumes, des Waldes, ist. Allerdings haben einige Großgrundbesitzer ein manifestes finanzielles Interesse, mehr Flächen für ihre Agrarindustrie zu erhalten. Deren Bezug zum Profit ist offenkundig größer als jener zum Schutz unserer Zukunft.

Wie sehr und in welcher Form hat sich Europa über Jahrzehnte selbst am Amazonas-Gebiet bereichert, etwa durch Rodungen für Monokultur-Plantagen?
Karg: Auch die Staaten der Europäischen Union waren im Umgang mit Südamerika stärker an billigen Rohstoffen interessiert als an der Bewahrung der Waldflächen. 70 bis 75 Prozent der weltweiten Sojaernte werden beispielsweise in Form von Sojaschrot zu Tierfutter für die industrielle "Tierproduktion". Allein Österreich importiert jährlich 500.000 Tonnen Soja  - davon sind mindestens 350.000 Tonnen gentechnisch manipuliert. Auch unsere Nachfrage in Europa schafft natürlich Anreize, die Agrarflächen in Südamerika auszudehnen, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen zu nehmen. Das Mercosur-Abkommen würde den europäischen Markt weiter für Agrarprodukte aus Südamerika öffnen und damit zusätzliche Anreize für den Ausbau der industriellen Landwirtschaft  setzen und den Druck auf den Regenwald erhöhen.

Wie glaubwürdig ist die Einschätzung des französischen Präsidenten, der die Brände als "internationale Krise" bezeichnet und es auf die Agenda des G7-Gipfel setzen will?
Karg: Angesichts der Herausforderungen begrüßt Greenpeace erst einmal jede Initiative, die dem Schutz des Regenwaldes dienen kann. Wir werden aber Präsident Macron nicht an seinen Absichtserklärungen messen, sondern an den realen Taten und deren Auswirkungen. Durch Worte allein wird der Raubbau an unserem Planeten nicht geringer.

Was hat die internationale Gemeinschaft bislang getan, um auf Brasilien einzuwirken und sich für den Schutz des Amazonas-Gebiet einzusetzen?
Karg: Beispielsweise haben Deutschland und Norwegen einen internationalen Fonds zum Schutz des Regenwaldes, der ja aktuell für so manche Schlagzeile sorgt. Die deutsche Umweltministerin Schulze hatte angekündigt, Fördermittel für brasilianische Waldschutzprojekte von 35 Millionen Euro einzufrieren und damit recht befremdliche Reaktionen von Bolsonaro erzeugt.

Welche Bedeutung hat das Amazonas-Regenwaldgebiet für den Planeten, das Klima allgemein?
Karg: Wir brauchen den Regenwald zum Überleben. Mit fast sechs Millionen Quadratkilometern ist er der größte tropische Regenwald der Erde und der größte CO2-Speicher der Welt. Ohne Regenwald haben wir keine Chance die Klimaerhitzung auf ein erträgliches Maß zu reduzieren, ohne Regenwald haben wir keine Zukunft.

"Wir nehmen den Nichtregierungsorganisationen ihre Zuschüsse, wir haben die Überweisungen der Regierungsstellen eingestellt. Jetzt fehlt ihnen das Geld. Es kann also sein, dass diese Organisationen gegen mich persönlich und die brasilianische Regierung vorgehen. Das ist der Krieg, in dem wir uns befinden": Was sagen Sie zu Bolsonaros Aussagen?
Karg: Mein Kollege Marcio Astrini von Greenpeace Brasilien hat das sehr treffend auf den Punkt gebracht. Er sagt, was die Regierung damit bezwecke, ist von der eigenen Verantwortung abzulenken. Denn Verantwortung für die Brände, die Abholzung, die Umweltverbrechen am Amazonas, haben Namen und Adresse: Die Regierung Bolsonaro.