Was hat Sie dazu bewogen, dieses Buch zu schreiben?

Vanessa Münstermann: Das ist eigentlich mein Tagebuch, ich habe gar nicht aktiv an einem Buch geschrieben. Ab dem Zeitpunkt, als ich aus dem Koma aufgewacht bin und einen Stift halten konnte, habe ich angefangen zu schreiben. Das war für mich eine Art Therapie. Im Endeffekt sind das wirklich eins zu eins meine Aufzeichnungen – sehr intim und mit vielen Gefühlen. Als ich andere Betroffene kennengelernt habe, dachte ich mir, es wäre an der Zeit, meine wirklichen Gedanken zu veröffentlichen. Auch damit sich andere nicht so allein fühlen.


Wenn Sie an die Zeit vor dem Angriff zurückdenken, was geht Ihnen durch den Kopf? Wie würden Sie sich selbst beschreiben?

Ich war sehr hübsch, aber depressiv, hatte nicht sehr viel Lebensfreude, mein Leben war geprägt von äußeren Schönheitsidealen, denen niemand standhalten kann. Das macht einen natürlich sehr unglücklich, gerade als Kosmetikerin, wo man seine Arbeit auch leben muss. Immer möglichst adrett aussehen. Das war schon ein Druck. Dazu kamen Minderwertigkeitskomplexe mit Suizidgedanken, nicht beliebt zu sein, wenn man nicht hübsch genug ist. Man wird schon von klein auf dahin gepolt.

Die Kombo zeigt das Säureopfer Vanessa Münstermann links am 11.07.2015 (privates Handy-Foto) vor dem Anschlag und rechts am 10.02.2017 in einem Fotostudio in Hannover (Niedersachsen)
Die Kombo zeigt das Säureopfer Vanessa Münstermann links am 11.07.2015 (privates Handy-Foto) vor dem Anschlag und rechts am 10.02.2017 in einem Fotostudio in Hannover (Niedersachsen) © APA/dpa/Julian Stratenschulte


Was hat Ihre äußerliche Veränderung innerlich bei Ihnen bewirkt? Wen sehen Sie, wenn Sie in den Spiegel schauen?

Es hat sehr viel bewirkt, da ich nicht mehr schön sein muss. Natürlich liegt die Schönheit im Auge des Betrachters, aber wenn man ehrlich ist: Ich werde nie mehr die Schönste sein! Irgendwie ist eine Last von mir gefallen. Ich habe nicht mehr den Druck, schön sein zu müssen. Und das befreit einen natürlich auch innerlich. Etwas hat sich gelöst, sodass auch die Minderwertigkeitskomplexe abgefallen sind –und die Depressionen.


Gar keine Depressionen mehr?

Natürlich hat man depressive Schübe! Ich bin auch der Meinung, dass Depressionen nicht heilbar sind. Das ist vergleichbar mit einem Tiger im Käfig. Man muss nur sehen, wie stark der Käfig ist. Es hört sich vielleicht doof an, aber irgendwie ist es gut, dass es mir passiert ist. Ich weiß nicht, ob ich noch leben würde, wenn es mir nicht passiert wäre.


Seit dem Angriff sind Sie das „Säureopfer von Hannover“: Wie haben Sie es geschafft, dieses Stigma des Opfers abzulegen und zur Akteurin Ihres Lebens zu werden?

Man heißt ja offiziell Opfer und ich bezeichne mich selber auch als Opfer. Aber im Grunde gibt nur zwei Möglichkeiten: aufgeben oder weitermachen. Das Wort wird eben sehr gerne gebraucht. Man darf das nicht so ernst nehmen, natürlich bin ich das „Säureopfer von Hannover“. Die Frage ist, inwieweit fühle ich mich in dieser Rolle wohl? Klar, ich bin es, aber im Privatleben darf das nicht so rüberkommen. Natürlich habe ich auch Tage, wo ich nur heule, da würde ich untergehen, wenn ich meinen Partner nicht hätte. Es gibt aber auch Tage, wo ich sage, so nicht mit mir! Mit Opfer muss jetzt Schluss sein! Es gibt natürlich auch Betroffene, die wollen Opfer sein. Die fühlen sich in dieser Rolle sehr wohl, und es gibt welche, die das nicht wollen. Letztendlich ist es nur ein Wort. Inwieweit man sich emotional selber fesselt, ist jedem selbst überlassen.


Gerade Mädchen haben oft ein verzerrtes Bild von ihrem Äußeren, leiden unter Minderwertigkeitskomplexen und Selbstzweifeln. Was könnten Sie Jugendlichen mit auf den Weg geben?

Dass sie es gar nicht erst zu versuchen brauchen. Sie werden nie schön genug sein! Im Endeffekt müssen sie zuschauen, dass sie sich selber lieben. Das ist, was zählt. Es wird immer irgendjemanden geben, der einen hässlich findet. Es finden auch ganz viele Kim Kardashian hässlich. Ihr schafft es eh nicht, lasst es sein! Dem Druck haltet ihr nicht stand. Und warum sollte man sich diesem Druck überhaupt hingeben?


Sie zeigen Ihr neues Gesicht mit Stolz: Wie sind die Reaktionen?

Es gibt viel Zustimmung. Jeder möchte besonders sein, aber wehe, wenn man anders ist. Natürlich bekomme ich auch Shitstorms und mir wird geraten, mir Haare über mein Gesicht wachsen zu lassen. Oder Aussagen wie „Wie kann man so eine hässliche Fresse lieben?“. Da muss man sich einfach abgrenzen. Man darf sich nicht kleinmachen. Es kann mich nicht jeder lieben. Da geht es auch um die Art und Weise, wie ich bin. Entweder liebt man oder hasst man mich. Es gibt Tage, wo ich fast daran verzweifle. Wenn ich Kommentare lese und mich frage, was habe ich diesen Menschen getan? Jemand, der direkt vor mir stand, hat mir noch nie ins Gesicht gespuckt und gesagt: „Boah, du bist hässlich.“ Sie verstecken sich alle hinter einem Profil. Das ist natürlich leicht.


Stalking ist weit verbreitet, nicht nur im Netz, sondern auch im realen Leben: Was raten Sie Stalking-Opfern?

Für mich ist es das Schlimmste, was es auf der Welt gibt: einen Menschen nicht loszuwerden. Es müsste definitiv strengere Gesetze geben. Und die Gesetze, die es in Deutschland gibt, werden so lala umgesetzt. Ich habe es in meinem Fall auch mit so einer Gefährderansprache versucht. Aber das ist, wie wenn man einem Dreijährigen sagt: „Nein, nein, nein, das darfst du nicht anfassen!“ Im Endeffekt lacht der Stalker und macht einfach weiter. Da muss die Politik ran, da braucht es eindeutig schärfere Gesetze. Ich selber konnte in meinem Fall nichts bewirken. In dieser Hinsicht bin ich wirklich Opfer und weiß auch nicht weiter. Einen richtigen Schutz gibt es nicht.


Ihr Ex-Freund wurde zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Es heißt, er bedroht Sie aus dem Gefängnis mit dem Tod. Wie gehen Sie damit um?

Ich gehe gar nicht damit um. Ich zerbreche daran. Das ist wirklich schwierig. Er (Anmerkung der Red.: der Säure-Attentäter) hat mir schon Auftragskiller für 20.000 Euro geschickt. Das erstarrt einen. Ich verdränge. Jeder Psychologe haut mir jetzt auf die Finger, aber ich sage, dass Verdrängung manchmal ein gutes System ist, um mit Problemen, die man noch nicht bewältigen kann, in der aktuellen Situation besser umzugehen. Würde ich mich jetzt aktiv mit diesem Problem beschäftigen, hätte ich keine Energie mehr für meine Tochter oder meine Hobbys. Und deshalb gehe ich in die Verdrängung rein, weil eben noch nicht Zeit dafür ist. Ich werde mir erst dann darüber Gedanken machen, wenn er wieder aus dem Gefängnis draußen ist. Und natürlich ist das eine Situation, wo ich wirklich Angst habe und für die ich leider auch noch keine Lösung habe. Personenschutz gibt es derzeit in Deutschland für Opfer nicht, aber ich versuche da ranzukommen.


Sie haben den Verein „AusGezeichnet“ gegründet, über den Sie andere Entstellte unterstützen. Wie kann man sich die Arbeit des Vereins vorstellen? Was gibt Ihnen die Arbeit im Verein?

Mir gibt diese Arbeit im Verein sehr viel. „AusGezeichnet“ bin zunächst einmal ich als Person. Wenn Betroffene sich melden, antworte ich persönlich. Zwei bis drei Leute helfen im Hintergrund. Wir betreuen auch Verbrannte, Menschen, die wirklich gezeichnet sind von Narben. Denen schicken wir Hilfspakete, die ich persönlich vorbereite. Manchmal setze ich mich auch mit deren Ärzten zusammen und wir schauen gemeinsam, wie wir helfen können. Aktiv betreue ich derzeit rund 15 Betroffene. Einmal haben wir auch eine Russin einfliegen lassen, um eine zweite Meinung einzuholen. Viele brauchen aber gar keine Hilfsmittel, die wollen einfach nur reden, nicht allein sein. Dafür sind wir auch da.