Der Slogan klingt monströs: „Deutsche Wohnen enteignen“. So schallte es auch am Samstag über den Alexanderplatz in Berlins Mitte. Zehntausende Menschen waren auf die Straße gegangen, um für bezahlbaren Wohnraum und gegen die seit Jahren steigenden Mieten in der deutschen Hauptstadt zu protestieren – und Unterschriften zu sammeln. Denn gleichzeitig wurde mit der Demonstration ein bundesweit einmaliges Volksbegehren zur Enteignung von Wohnungskonzernen gestartet. Was ursprünglich als regional begrenzte Initiative für einen Volksentscheid gedacht war, hat sich in wenigen Tagen zum deutschlandweiten Brandherd ausgeweitet. Die Bundespolitik diskutiert über Enteignungen.

Der Hintergrund ist einigermaßen kurios. In den 90er- und Nullerjahren verscherbelte das klamme Bundesland Berlin sein Tafelsilber, um Löcher im Haushalt zu stopfen, die durch den Bankenskandal entstanden waren. 209.000 der 482.000 Wohnungen der städtischen Gesellschaften verkaufte der Senat. Größter Einzelblock waren 65.000 Wohnungen der Gesellschaft GSW, die erst in ein eigenes Konsortium überführt und später an die von der Deutschen Bank gegründete Deutsche Wohnen verkauft wurde. Federführend war Finanzminister Thilo Sarrazin in einer rot-roten Koalition aus SPD und PDS (heute Linkspartei) unter dem Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit. Schon wenige Jahre später nannten Berliner Politiker angesichts der Mietexplosion den Verkauf verkehrt.

Wut auf die Wohnungskonzerne

Die Initiative zielt zwar auf alle profitorientierten Unternehmen, die mehr als 3000 Wohnungen im Bestand haben. Doch der Unmut richtet sich gegen die börsennotierte Deutsche Wohnen, die mit 115.000 Einheiten den größten privaten Bestand in Berlin besitzt. 95.000 Wohnungen waren früher in Landesbesitz. Der Senat plant tatsächlich den Rückkauf von privatisierten Wohnungen, ist aber in seiner Haltung zum Volksbegehren gespalten. Stadtoberhaupt Michael Müller ist dagegen, seine Jungsozialisten sind wie der Koalitionspartner von der Linkspartei dafür.
Auch SPD-Chefin Andrea Nahles plädiert eher für den Mietenstopp. Sie verstehe laut Interview mit der „Bild am Sonntag“ zwar die Wut auf die Wohnungskonzerne, dennoch halte sie Enteignungen für eine „Scheinlösung“. SPD-Politiker Carsten Schneider schlug zudem vor, dass Gemeinden ihren Boden nicht länger an Dritte verkaufen und verstärkt auf Erbbaurecht setzen sollten.

Grünen-Chef Robert Habeck hält Enteignungen prinzipiell für denkbar, aber nur als letztes Mittel, wenn Eigentümer brachliegende Grundstücke nicht bebauen und nicht an die Stadt verkaufen wollen. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder empört die Aussage Habecks: „Enteignungen sind nun wirklich sozialistische Ideen und haben mit bürgerlicher Politik nichts zu tun.“ Der CSU-Chef plädiert dafür, die Bauordnung zu vereinfachen, damit schneller gebaut werden könne. Söder war jedoch im Streit um den Verkauf der staatlichen Wohnungsgesellschaft GBW 2013 selbst massiv in die Kritik geraten. Söders These, dass mit Zwangsenteignung „keine einzige neue Wohnung geschaffen“ werde, wird auch vom FDP-Chef Christian Lindner geteilt.
Und selbst Habeck betont, dass besser immer gefragt werden müsse, ob Gelder, die zur Entschädigung bei einer Enteignung eingesetzt werden, mit größerem Effekt anders verwendet werden könnten. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hält andere Mittel ebenfalls für erfolgversprechender. Enteignungen seien jedenfalls kein „geeignetes Mittel zur Linderung der Wohnungsnot“.

Der Geschäftsführer des Städte- und Gemeindebunds warnte allein schon vor den Folgen der Debatte. „Durch derartige publikumswirksame Diskussionen, die sogar von einigen Politikern unterstützt werden, wird die Bereitschaft von privaten Investoren, neuen und zusätzlichen Wohnraum zu schaffen, im Zweifel deutlich reduziert“, sagt Gerd Landsberg. Die Hoffnung, Enteignungen könnten Not lindern, dürfte sich ins Gegenteil verkehren.