Stromausfälle sind im Krisenstaat Venezuela keine Seltenheit. Der Großteil der Bevölkerung ist für solche Vorfälle gerüstet. Vergangenen Donnerstag gingen wieder einmal die Lichter aus. Im ganzen Land. Als der Strom auch nach Stunden nicht aus der Dose kam, wurde der Albtraum zur Wirklichkeit, die für viele Venezolaner noch immer andauert. Es kommt zu Protesten und Plünderungen.

Der blanke Horror

Insgeheim habe sie schon längst mit einem Blackout gerechnet, sagt Lennis Rojas. Erst vor wenigen Monaten gab es einen Zwischenfall. Die Hälfte des Landes war von der Stromversorgung abgeschnitten. "Das System ist seit 2009 sehr schlecht. Wir leben bereits sehr lange mit diesen Bedingungen. Aber dieses Mal war der Stromausfall besonders schlimm. So etwas kennt man aus Filmen, aus Büchern. Wenn du es selbst erleben musst, ist es der blanke Horror", sagt die zweifache Mutter aus Caracas.

Kriminelle und Paramilitärs

Die Hauptstadt, die nachts ohnehin den Kriminellen und Paramilitärs gehört, blieb vier Nächte lang stockdunkel und versank im Chaos: die ohnehin marode Wasserversorgung brach zusammen, weil die Pumpsysteme elektrisch betrieben werden. Weder Gas, noch Benzin waren verfügbar. Der gesamte Zahlungsverkehr, der wegen der exorbitanten Inflation von 2,69 Millionen Prozent inzwischen fast ausschließlich elektronisch abgewickelt wird, kam zum Erliegen. Kaum jemand konnte Lebensmittel besorgen, viele mussten hungern. Doch die Katastrophe ist längst noch nicht ausgestanden. Es gibt mit Ausnahme der Mobiltelefone noch immer keine Internet-Verbindung. Die Versorgung läuft nur stockend an. Weswegen am Montag Schulen erneut geschlossen blieben und Unternehmen ihre Mitarbeiter heimschickten.

Schwere Folgen für Spitäler

Besonders schwerwiegend hat sich der Stromausfall auf die Krankenversorgung in Venezuela ausgewirkt. Mindestens 40 Menschen kamen nach Angaben von Coalición de Organizaciones por el Derecho a la Salud y la Vida, kurz Codevida, während des Blackouts ums Leben. "Es ist eine Katastrophe. Wir haben momentan die Information, dass 15 Dialyse-Patienten starben, weil sie unterversorgt waren", bestätigt Francisco Valencia, der Direktor der venezolanischen Gesundheitsorganisation, im Gespräch mit der APA. Wie hoch die Zahlen tatsächlich sind, lasse sich noch nicht sagen. Die Kommunikation zu allen 23 Territorialgebieten konnte noch nicht hergestellt werden.

Dialyse: Viele Kinder betroffen

Weiterhin sehr besorgniserregend ist der Zustand vieler Blutwäsche-Patienten, unter ihnen viele Kinder. Sie hätten seit vergangenem Mittwoch keine Behandlung mehr erfahren, es gehe ihnen stetig schlechter. In öffentlichen Kliniken gibt es kein Wasser und keine Nahrung. "Ich bin an einem Spital vorbeigefahren, wo kleine Mädchen und Buben aus den Fenstern geschrien haben. Sie leiden Hunger", sagt der Codevida- Direktor.

Durch die lange unterbrochene Stromversorgung nehmen Blutbanken große Schäden und Medikamente, wie jene für Diabetiker beispielsweise, verlieren ihre Wirkung. Eiswürfel für die Kühlung wurden prompt zum Geschäftsschlager. Mit Wucherpreisen bis zu zehn Dollar pro Sack verdiente sich so mancher Straßenverkäufer das Doppelte des Mindestmonatslohns. Die fehlende Klimatisation begünstigt bei der momentan anhaltenden Hitze - in Teilen Venezuelas liegt die Temperatur tagsüber bei mehr als 30 Grad Celsius - zudem die Ausbreitung von Infektionskrankheiten.

Mehr als 80 Tote

"Es ist schrecklich. Kombination aus allen Auswirkungen endet für viele tödlich", sagt Leonardo Segovia, Arzt in der Privatklinik Ávila in Caracas. Er spricht, wie auch der selbst ernannte Präsident Juan Guaidó, von mehr als 80 Toten während des Blackouts. Weil Wartungen versäumt wurden und die notwendigen Geldmittel fehlen, würden kaum Notstromaggregate laufen. Ärzte mussten sich in den Nächten mit Mobiltelefonen Lichtquellen verschaffen. Im Schein der Handylampe wurden Frühchen im Inkubator mit einem Beatmungsbeutel am Leben gehalten - die Bilder und Videos ging um die Welt.

Kabinett ist handlungsunfähig

Hilfslosigkeit und Angst treiben inzwischen immer mehr Venezolaner auf die Straße, um gegen Machthaber Nicolás Maduro und sein handlungsunfähiges Kabinett zu demonstrieren. "Den Menschen geht es inzwischen so schlecht, sie wissen nicht, wie sie überleben sollen und die Regierung schiebt die Schuld wie immer auf die Vereinigten Staaten. Sie zieht sich aus der Verantwortung, bestreitet ihr Versagen und verbreitet über die Staatsmedien Desinformation", klagt Daniel Briceño, Englisch-Student aus der drittgrößten Stadt Valencia. "Die Leute wissen, dass das nicht stimmt. Sie sind verärgert. Sie wollen und können nicht mehr länger so leben."

Aus der Not kriminell

Die Not macht viele zu Kriminellen. In seiner Nachbarschaft sei in Läden eingebrochen und Nahrung geplündert worden, erzählt Willmer Diaz, ebenfalls aus Valencia. Der ehemalige Offizier der Militär-Flugstaffel verbarrikadierte sein Haus und harrte darin während der vergangenen Tage aus. "Wir hatten tagelang keinen Kontakt zur Außenwelt. Die Batterien der Telefone waren schnell leer. Wir wussten nicht, was passiert, wie lange wir ausharren müssen", erzählt Diaz.

Diese Ungewissheit lässt die Menschen verzweifeln. Im Land und im Ausland. Seit fünf Tagen und vier Nächten wartet Genesis Aguilar auf einen Anruf ihrer Mutter. Die Tochter arbeitet in Kolumbien, um Geld in die Heimat schicken zu können. "Es macht mich verrückt, nicht zu wissen, wie es ihr geht. Sie ist auf die Hilfe von mir und meiner Schwester angewiesen", sagt Aguilar.

Joselyn Gonzales versucht ihre Eltern, seit sie vor zwei Jahren nach Peru auswanderte, täglich zu erreichen. Gestern bekam die Exil-Venezolanerin von ihrem Vater endlich eine Sprachnachricht. "Er klang so traurig. Aber er wollte stark bleiben, damit ich mich nicht sorge", erzählt die Exil-Venezolanerin. Von ihrer Mutter habe sie seit dem Stromausfall, dem größten in der Geschichte des Landes, nichts gehört. "Meine Landsleute daheim leiden extrem und wir im Ausland mit ihnen. Wir Venezolaner sterben jeden Tag ein bisschen mehr."