Für ihren Sohn war es ein Abenteuer, für sie und ihren Mann selbstverständlich. Doch dann wurde Lenore Skenazy (55) von US-Medien zur "schlechtesten Mutter der Welt" gekürt. Ihr Fehler? Sie unterstützte ihren neunjährigen Sohn dabei, das erste Mal in New York alleine mit der U-Bahn zu fahren. "Wir gaben ihm die Fahrkarte, Kleingeld zum Telefonieren und 20 Dollar für ein Notfalltaxi mit", erzählte die Autorin dem deutschen Magazin "Spiegel".

Weil sie in US-Medien von einer Welle der Empörung überrollt wurde und ihre Erziehungsmethode rechtfertigen musste, ging Skenazy zum Gegenangriff über. Die Aktivistin gründete die Bewegung "Free Range Kids" (Bewegung der "frei laufenden Kinder"). Seitdem kämpft die 55-Jährige in einer TV-Show, auf ihrer Homepage und mit 21.000 Facebook-Fans gegen die Auswüchse überfürsorglicher Elternschaft. Ihr Leitfaden: "Wie ich selbstbewusste, selbstsichere Kinder erziehe, ohne vor Sorge verrückt zu werden."

"Ich mache Eltern keine Vorwürfe, dass sie Angst haben", schreibt Skenazy in einem Beitrag für die "Huffington Post". Sie würden medial rund um die Uhr mit Schreckensszenarien gefüttert. "Als unsere Eltern uns aufzogen, sahen sie ,Dallas' oder ,Dynasty' im Fernsehen. Jetzt läuft CSI. Unser Gehirn ist voll mit furchtbaren Geschichten und herzzerreißenden Bildern, fragwürdigen Ratschlägen und hysterischen Produkten." Laut Statistik geht die Kriminalitätsrate in New York jedoch zurück. Geht es um Gewalt gegen Kinder oder Missbrauch, kommt der Täter hingegen oft aus dem näheren Umfeld des Kindes.

Eltern landen vor Gericht

Mit Argwohn beobachtet die zweifache Mutter die Entwicklung in der Kindersicherheitsindustrie: Babyknieschützer, Babyhelme, GPS-Armbanduhren oder Handy-Tracking-Apps, womit Eltern jeden Schritt ihrer Kinder überwachen können - und sie so an der elektronischen Leine halten. Der "Spiegel" spricht von "Drohnen-Eltern" als Nachfolger der "Helikopter-Eltern", die um ihr Kind kreisen. Rechtlich gesehen bewegen sich Eltern, die die "Free Range Kids"-Bewegung unterstützen, in den USA oft im illegalen Bereich. Eltern wurden bereits verhaftet, weil ihre Kinder alleine im Park spielten oder allein nach Hause gingen.

So wird am Montag im Bundesstaat Massachusetts ein Fall verhandelt, bei dem ein Paar seine Söhne (7, 9) eine Stunde allein am Strand ließ. Der Rettungsschwimmer rief die Polizei, die den Fall anzeigte. Skenazy will zeigen, wie schwer es Kindern gemacht wird, Erfahrungen zu machen. "Mein Ziel ist nicht, die Gefahren zu ignorieren", erklärt sie. "Es geht nur darum, sie in die richtige Perspektive zu setzen, damit wir unseren Kindern die Chance geben, sagen zu können: ,Ich hab es alleine geschafft!'"