Wenn Michelle O’Neill vor Kameras tritt, umspielt ihren Mund oft ein verlegenes Lächeln. Es wirkt, als sei sie selbst immer noch ein wenig überrascht von ihrem Aufstieg: Die Vizepräsidentin Sinn Féins könnte schon bald Regierungschefin in Nordirland sein. Ihre Partei, die einst als politischer Arm der militanten IRA galt, wurde bei der Wahl erstmals stärkste Kraft in der zum Vereinigten Königreich gehörenden Provinz. Es ist ein historisches Ergebnis. Nie zuvor in der gut 100-jährigen Geschichte des Landesteils schaffte das eine Partei, die sich für die irische Einheit einsetzt.

Nordirland wurde einst als protestantisch dominierte britische Provinz neben der überwiegend katholischen Republik Irland gegründet. Katholiken waren lange unterdrückt. Als O’Neill ihre Wiederwahl als Abgeordnete der Northern Ireland Assembly annahm, klang sie präsidial: „Heute beginnt eine neue Ära, die uns allen die Möglichkeit gibt, Beziehungen in der Gesellschaft neu zu definieren auf der Grundlage von Fairness, Gleichbehandlung sowie von sozialer Gerechtigkeit – unabhängig von politischen, religiösen oder sozialen Hintergründen“, erklärt sie. Die 45-Jährige weiß, wovon sie spricht: Sie hat einen langen Weg hinter sich. O’Neill stammt aus einfachen, ländlichen Verhältnissen. Bereits mit 16 Jahren war sie schwanger. Der „Irish Times“ sagte sie einmal, sie habe „sehr, sehr negative Erfahrungen“ als Teenager-Mutter und Alleinerziehende gemacht.

Ob O’Neill tatsächlich Regierungschefin wird, hängt von der Kooperation der protestantisch-unionistischen Partei DUP ab. Die kündigte bereits an, sich aus Protest gegen die als Nordirland-Protokoll bezeichneten Brexit-Vereinbarungen zu verweigern. Im Karfreitagsabkommen ist eine Einheitsregierung der jeweils größten Parteien der beiden Konfessionen vorgesehen. Sollte die Hängepartie länger als sechs Monate andauern, könnte es zur erneuten Wahl kommen – die Chancen stehen gut, dass die DUP damit Sinn Féin den nächsten Sieg beschert.