Bremsen, Zahnradkranz, Gepäcksträger, Rückstrahler, Speichen, Glocke: Einen Fahrradbauteil nach dem anderen kramen die Burschen aus ihrem frischen Vokabelschatz, schreiben ihn fehlerfrei auf die Tafel, wiederholen fleißig Verkehrsregeln und richtiges Bremsverhalten. Die Fahrradprüfung bei der örtlichen Polizei steht an.

Für die Gruppe ein nächster Schritt Richtung Integration in ihrer neuen Heimat. Die alte liegt sechstausend Straßenkilometer oder achteinhalb Flugstunden weiter östlich. Afghanistan. Dort haben sie bis vor Kurzem noch verstreut in Dörfern mit ihren Familien gelebt.
Heute leben sie am Ortsrand von Niklasdorf im Bezirk Leoben als unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in einem ehemaligen Arbeiterwohnhaus einer mittlerweile aufgelösten Baufirma.

Täglich fünf Stunden Unterricht im Klassenzimmer

Gehämmert, gesägt, betoniert und verschalt wird hier aber immer noch. Das Institut für Talenteentwicklung hat auf dem Areal eine kleine Lehrwerkstatt eingerichtet, in der die insgesamt 45-köpfige Gruppe junger Zuwanderer auf die eigentliche Lehrausbildung für die Bauwirtschaft vorbereitet werden. „Ganzheitlich“, wie die Institutsgründer Josef und Hannes Missethon betonen, indem sie auf den dichten und strikten Stundenplan ihrer Schützlinge verweisen.
„Sie sollen nicht bedingungslose Hilfe gewohnt werden, sondern Leistungsbereitschaft lernen, weil die Unternehmen selbst denkende, leistungsbereite Leute brauchen“, begründet Missethon. Für manche zerbricht damit ein Trugbild. „Wir waren zu Beginn zwei Monate damit beschäftigt, die von den Schleppern aufgebauten Erwartungen zu dekonstruieren und Zielbilder und ein Klima aufzubauen, das mit der Realität übereinstimmt.“

So gibt es täglich fünf Stunden Unterricht im Klassenzimmer – von Deutsch über Mathematik, Geschichte bis zu einem Werteunterricht –, Schulungen über richtiges Verhalten im Schwimmbad inklusive. „Sie müssen unsere Werte kennen, um sie zu können“, sagt Missethon.
Dazu kommen die Lehrstunden in der Werkstatt, wo handwerkliche Grundlagen und Lagermanagement gelehrt werden. Pro Quartal gibt es eine Woche Ferien. „Wir wollen einen Rhythmus in den Alltag bringen, der auf den Berufsalltag vorbereitet“, erklären die beiden Projektinitiatoren. Das Schaffen von fixen Strukturen sei auch Teil der Traumabewältigung, weil es die Selbstverarbeitung der Geschehnisse in der Vergangenheit der Jugendlichen begünstige, sagt Josef Missethon.

Tatsächlicher Mitarbeiterbedarf von Unternehmen

Das Fördermodell ziele zudem auf die individuellen Talente der jungen Männer und den tatsächlichen Mitarbeiterbedarf von Unternehmen ab. Zusammen mit dem Standort in Trofaiach, wo das Projekt mit einer allgemeinen Ausbildung für Gewerbebetriebe schon ein halbes Jahr früher gestartet wurde, werden mittlerweile fünf Lehrer beschäftigt und insgesamt knapp einhundert Jugendliche – vorwiegend aus Afghanistan, aber auch Pakistan, Syrien und Somalia – betreut. Acht haben den Sprung in die normale Lehre bereits geschafft, sieben weitere haben Vorverträge mit Betrieben, fünf sind als saisonale Arbeitskräfte beschäftigt. „So haben wir zwanzig Personen direkt in die Wirtschaft vermittelt, ohne dass jemals Mindestsicherung in Anspruch genommen wurde“, ist Missethon stolz. Nur der Internatsbetrieb wird mit öffentlichen Geldern über die Grundversorgung des Bundes finanziert.

Das Essen für die beiden Quartiere wird in der eigenen Großküche in Trofaiach zubereitet. Dort bildet das Institut unter der Leitung einer spanischen Köchin mittlerweile selbst zwei Köche aus. „Wir bieten österreichische Küche mit spanisch-afghanischem Einfluss“ (Missethon) – aktuell unter Berücksichtigung des Ramadan. „Wir lassen einen religiösen Zugang zu, bieten aber keine Extraräume. Wir erklären ihnen unsere Feiertage, sie uns ihre“, setzt Hannes Missethon auf ein „Je mehr Normalität, desto besser“-Credo. So soll auch das Fußfassen in den Unternehmen gelingen.

Fokus auf praktischen Fähigkeiten

Für sie bietet man umgekehrt ein Kennenlernprogramm. „Weil bei den konventionellen Auswahl- und Aufnahmeprozessen die Gefahr besteht, dass Talente aufgrund fehlender Deutschkenntnisse verloren gehen, haben wir Unternehmen zu uns eingeladen, damit sie sehen, wie die jungen Männer hier arbeiten“, erklärt Hannes Missethon. Das sei zielführender, weil der Fokus auf den praktischen Fähigkeiten liege. In den Unternehmen selbst biete man außerdem Workshops in Sachen Interkulturalität an. In Trofaiach gibt es zudem ein Patensystem mit lokalen Familien, die die neuen Nachbarn wochenendweise zu sich nach Hause einladen.

Erste Erfolgserlebnisse befeuern den Optimismus der Initiatoren. So haben die ersten Lehrlinge nach zwei, drei Monaten ihre österreichischen Kollegen zu sich nach Hause eingeladen – und umgekehrt. „Da wussten wir: Jetzt sind sie gelandet!“, freut sich Josef Missethon. „Wir brauchen diese Normalität, dann ist vieles gemeinsam möglich“, ergänzt Hannes Missethon.