Es sind drei Zahlen, die die Zerrissenheit einer Branche, das Hin und Her zwischen Chancen und Risiken eindrucksvoll belegen: Fast drei Viertel schätzen die Chancen, die sich durch die Digitalisierung für ihr Unternehmen ergeben, als hoch bis sehr hoch ein. Dennoch wartet mehr als die Hälfte der Unternehmen erst einmal ab, „bis erprobte Lösungen vorliegen“. Und ein Drittel sieht hohe bis sehr hohe Risiken damit einhergehen.

Schon vor sechs Jahren kristallisierten sich in einer Untersuchung zwei K als große Herausforderungen für die Branche heraus: Kostendruck und Komplexität. Daran hat sich nichts geändert – außer, dass es noch komplexer geworden ist.

Produkt sucht sich „selbst denkend“ den besten Weg

Die fortschreitende digitale Transformation, die verstärkt geforderte Transparenz in der Supply Chain (Lieferkette) sowie wachsende Individualisierung und Automatisierung (siehe Artikel unten) werden das Morgen prägen. Daraus destilliert sich ein Zukunftsbild eines „Physical Internet“ basierend auf einheitlichen Lastenträgern und einer Öffnung aller Lager- und Transportkapazitäten. So können Waren künftig auf unterschiedlichen Wegen und mit unterschiedlichen Transportmitteln – Lkw, Bahn etc., je nachdem, was gerade verfügbar ist – zum Kunden kommen. Das Produkt sucht sich „selbst denkend“ den billigsten und schnellsten Weg.

„Wir müssen aktiv über Veränderungen nachdenken“

„Ziel ist es, Leistungen zur Verfügung zu stellen, bevor der Kunde überhaupt weiß, dass er etwas transportieren will“, formulieren es Wissenschaftler der ebenfalls mit der Materie befassten Fraunhofer Austria Forschungsgesellschaft. Möglich wird das unter anderem durch Cloud-Softwarelösungen zur Optimierung des Lagerbetriebs sowie Bildverarbeitungs- und Assistenzsysteme, wie sie beispielsweise beim steirischen Spezialisten Knapp entwickelt werden.

Die richtige Menge des richtigen Produkts zur richtigen Zeit am richtigen Ort – diese Erfolgsformel behält Gültigkeit. Denn die Gefahr, dass man im hart umkämpften Markt wegen Unter- oder Überkapazitäten in die Verlustzone rutscht, sind zumindest nicht kleiner geworden. Und auch die Rahmenbedingungen werden nicht einfacher – Beispiel Abgasnormen, Fahrverbote. „Wir müssen aktiv über Veränderungen nachdenken“, bestätigt Roman Stiftner, Präsident der Bundesvereinigung Logistik (BVL), dem größten Branchennetzwerk Österreichs. Er sieht darin aber auch große Chancen, weil ein Höchstmaß an Effizienzsteigerung gefordert wird – „und damit ein Maximum am Nachhaltigkeitskonto verbucht werden kann“.

"Prozesse werden komplexer, aber auch lokaler"

Stiftner ortet in diesem Zusammenhang zudem – trotz Globalisierung – eine Entwicklung hin zur Regionalisierung. „Die Fertigungs- und Wertschöpfungsprozesse werden zwar komplexer, aber auch lokaler und damit kundennäher“, sagt Stiftner. Diese Spezialisierungstendenzen weg von der „Stangenware“ und der Globalisierung hin zum Kunden bezeichnet er als „fundamentalen Trendwechsel“. Dafür brauche es neben entsprechenden Kapazitäten im Bereich der klassischen analogen Infrastruktur (Straßen- und Schienenverbindungen) auch eine leistungsstarke digitale Infrastruktur. Die Digitalisierung entwickle sich nämlich derart schnell weiter, dass trotz Planung am mutigen Experimentieren und ständigen Nachjustieren kein Weg vorbeiführe, sind sich die Experten sicher.

Denn auch in der Logistik wird beispielsweise der Zugriff auf Daten über mobile Endgeräte weiter zunehmen, ebenso der Stellenwert der Sensorik als wesentliche Datenquelle für die Überwachung von Lieferprozessen und deren Verbesserung. Auch fahrerlosen Transportsystemen (siehe Seite 12) und Augmented-Reality-Systemen (erweiterte Realität), etwa in Form von Datenbrillen, wird hohes Wachstumspotenzial zugestanden.

Facharbeitermangel

Das alles führt aber auch zu massiv veränderten Anforderungen an die Beschäftigten. Diesbezüglich stöhnt die gesamte Branche unter einem eklatanten Facharbeitermangel. „Gute Leute, die sich mit der digitalen Transformation der Roadmap auskennen, werden händeringend gesucht“, bestätigt Martin Tschandl, Leiter des Studiengangs Industrial Management an der FH Joanneum in Kapfenberg und Regionalobmann für Kärnten und Steiermark des „Vereins Netzwerk Logistik“.

Gebraucht werden vor allem sogenannte Business-Analytics- Experten – Leute, die sich mit Statistik und Mathematik auskennen und große Datenmengen auswerten beziehungsweise vernetzen können. Viele Logistikunternehmen gehen daher Kooperationen mit Hochschulen ein. An der Fachhochschule in Kapfenberg eröffnet beispielsweise am 7. März eine vom Studiengang betriebene „Digitale Fabrik“. Auch hier wird es um einen Datenfluss mit möglichst wenig Schnittstellen vom Lieferanten bis zum Kunden gehen. Auch im wirklichen Geschäftsalltag geht es darum, standardisierbare Geschäfte zunehmend auf vollautomatische digitale Plattformen auszulagern.

Digital und transparent abgebildet

„Logistiker sind drauf und dran, Plattformen zu entwickeln, die nach dem Vorbild Amazon beziehungsweise Uber funktionieren“, erklärt Martin Tschandl. Demnach wird der gesamte Transportweg digital und transparent abgebildet, über dezentrale Datenbanken – Stichwort Blockchain – laufen die dafür notwendigen Informationen und werden die finanziellen Transaktionen abgewickelt.

Die Zahl der Unternehmen, die sich mit derartigen Lösungen beschäftigen, wächst. Und sie stehen auf der Liste von Investoren sehr weit oben. Laut einer Marktanalyse des Strategieberaters Oliver Wyman wurden von Logistik-Start-ups in den vergangenen zehn Jahren bei öffentlich bekannten Finanzierungsrunden weltweit elf Milliarden Euro eingesammelt. Alle fünf Tage wird demnach ein neues Start-up in diesem Geschäftsbereich gegründet. Sie treiben viele arrivierte und teils traditionsverhaftete Branchengrößen mit Innovationen vor sich her, wenn auch das Wissen um die Dringlichkeit zum Handeln längst Allgemeingut ist.

"Hohe Innovationsgeschwindigkeit wichtiger denn je"

Denn der Fantasie sind auch in der Logistik keine Grenzen gesetzt. „Brauchen wir bald keine Logistiker mehr, weil wir die Dinge per 3D-Druck selbst ausdrucken?“, stellt Logistik-Spezialist Martin Tschandl eine fast ketzerische Frage in den Raum. Pankl und die Voestalpine investieren jedenfalls bereits in 3D-Druck-Verfahren. Tschandl bremst voreilige Untergangspropheten: „3D-Druck ist nicht mit einer Papierkopie zu vergleichen, er ist um vieles komplizierter. Neue Werkstoffe sind gefordert.“ Und außerdem müsse jemand auch den Rohstoff, die Polymere, transportieren.

Derartige Visionen sorgen in der Logistikbranche mit ihren je nach Abgrenzung österreichweit bis zu 40.000 Unternehmen und 400.000 Beschäftigten jedenfalls für permanente Bewegung. „Im digitalen Zeitalter ist eine hohe Innovationsgeschwindigkeit wichtiger denn je“, lautet der Befund der Bundesvereinigung Logistik Deutschland. Deren Fazit: „Der späteste Zeitpunkt, um in die Digitalisierung einzusteigen, ist jetzt.“