Mit Energie kennt man sich aus in Murau. Vor über zehn Jahren formulierte man die „Energievision Murau“, zahlreiche Auszeichnungen folgten. Mit dem Jahr 2015 fand auch die ursprüngliche Energievision ihr Ende – Zeit, Bilanz zu ziehen.

„Murau ist 2015 energieautark“ heißt es auf der Website der Energievision. Was passiert, wenn jemand nun im Jänner 2016 den großen Stecker ziehen würde?
KURT WOITISCHEK: Murau wäre hell erleuchtet! Wir versorgen uns durch Wasserkraftwerke, für die wir einen Inselbetrieb nutzen. Bei einem Blackout (ein plötzlicher Ausfall großer Stromnetze, Anm.) fallen diese zwar kurzfristig mit aus, bauen sich durch einen Schutzmechanismus aber binnen zwei bis drei Stunden ein eigenes Inselnetz auf. Damit könnten wir Murau und die umliegenden Gemeinden versorgen. Wichtig: Auch das LKH Stolzalpe hängt dran, ebenso wie die Brauerei. Wir wären die einzige Region, in der noch Bier gebraut würde (lacht).
HARALD KRAXNER: Europa wäre finster und Murau leuchtet.
WOITISCHEK: Vom Flugzeug aus würden wir aussehen wie ein helles gallisches Dorf.

Über einen möglichen Blackout wird viel diskutiert – wie realistisch ist das Szenario?
KRAXNER: Bei unserem Energiecamp letztes Jahr sind wir der Frage nachgegangen. Alle Experten waren sich einig, dass man in Zukunft verstärkt auf Insellösungen setzen muss, um solche Szenarien zu verhindern.
WOITISCHEK: Fakt ist, seit im europäischen Netz erneuerbare Energie ausgebaut wird, ist eine Ausregelung der Belastung schwierig. Bei einer Schlechtwetterfront verlieren sowohl Photovoltaikanlagen als auch Windparks an Leistung. Wichtig wäre es daher, „Aushilfsenergie“ zu schaffen, eben durch Speicherkraftwerke. 2014 gab es in Europa 180 kritische Fälle, die von einem Zusammenbruch des Systems nicht weit entfernt waren. Die großflächigen Netzstrukturen sind teilweise veraltet, es fehlt an Kapazität.

Wie kann es zu einem europaweiten Stromausfall kommen?
WOITSCHEK: Wenn zum Beispiel massive Anlagen wegbrechen, etwa ein bis zwei Atomkraftwerke ausfallen. Egal, ob die Ursache in Deutschland, Frankreich oder Tschechien ist, das Energienetz hängt zusammen. Denkbar wäre auch ein Naturereignis, ein Sturm, der die Leitungen kappt. In so einem Fall wird die Leistung umgeleitet, die Netze wären überlastet und müssten abgeschaltet werden. Es kommt zu einer Kettenreaktion, es wird finster. Die Frage ist: Wie lange dauert es, bis europaweit ein Netz wieder aufgebaut wird? Das ist viel schlimmer als der eigentliche Ausfall. So ein Szenario wurde nie geprobt, nur am Computer durchgerechnet. Im Katastrophenfall würden wir uns in Murau vom Netz abkoppeln. So lange Wasser in der Mur fließt, können wir rund 4500 Haushalte, die Stolzalpe und das Fernwärmeheizwerk erhalten.

Wie blicken Sie auf die vergangenen Jahre der Energievision zurück?
WOITISCHEK: Wir produzieren zur Hälfte mehr Strom, als im Bezirk gebraucht wird. Es gibt viele Wasserkraftwerke, die Zahl der Photovoltaikanlagen ist explosionsartig angestiegen.
KRAXNER: 2013 gab es eine Umfrage, demnach werden private Haushalte zu 80 Prozent, öffentliche Gebäude zu 70 und Wohnhäuser zu 60 Prozent mit Wärme aus erneuerbaren Energien versorgt. Wir haben recherchiert, es gibt nirgends in Österreich einen Bezirk, der diese Größenordnung erreicht! Unser Ziel waren 75 Prozent, das haben wir erreicht. Im Vergleich zu vorher ein Quantensprung.
WOITISCHEK: Ich möchte noch die Stadt Murau als Keimzelle hervorheben. Es ist die einzige Stadt dieser Größe, die zwei Heizwerke hat. Das Schöne ist, dass beide aneinandergekoppelt sind und sich gegenseitig aushelfen. Es gibt also keine Ausfälle.

Gab es in all den Jahren keine Rückschläge?
WOITISCHEK: Die Verlegung der Rohre haben wir teilweise unterschätzt, etwa auf die Stolzalpe rauf, das war ein Husarenritt. Bei der Brauerei war es noch schwieriger, weil viele nicht daran geglaubt haben. Jetzt sind wir da Vorreiter, der ganze Sudprozess wird mit Niedrigtemperatur durchgeführt. Das Bier wird viel schonender gekocht, und schmeckt dadurch noch besser. KRAXNER: Unbedingt erwähnen sollte man, dass ein großer Teil der finanziellen Mittel von den Menschen in der Region aufgebracht worden ist. Natürlich gab es eine Impulsfinanzierung und Förderungen, aber die Menschen aus dem Bezirk standen und stehen hinter dem Projekt.

Ist die Energievision mit 2015 erloschen?
WOITISCHEK: Sicher nicht. Wir werden in Zukunft unser Know-how mehr nach außen tragen. Auch andere Regionen sollen motiviert werden, ökologisch sinnvoll zu investieren. Ich bin überzeugt davon, dass wir am richtigen Weg sind. Die Energiepreise werden sich schlagartig ändern. Wir stehen bald massiven Veränderungen gegenüber.
KRAXNER: Mit 2015 ist die Energievision nicht vorbei, sie lebt voll weiter. Das Thema Energie soll regional optimal verwertet werden, der Inselbetrieb ausgeweitet werden. Wir denken auch an Projekttourismus.

Murau als Vorbild also...
WOITISCHEK: Schon 1906 ist in Murau das erste Kraftwerk gebaut worden, wurde also die eigene Stromversorgung forciert. Aus der Not heraus, weil der Raum Murau lange nicht ans Netz angeschlossen wurde.
KRAXNER: Heute sind wir mit der Bewusstseinsbildung so weit, dass die Bevölkerung sensibilisiert ist für das Thema. Die Menschen tragen die Philosophie mit. Nur so werden Dinge möglich, wie Murau sie geschafft hat.