Wie Senkblei zieht es meine Beine nach unten. Es müssen die Socken sein. Modisch waren sie zwar ein tiefer Griff ins Klo, dafür scheint die Schwerkraft eine besondere Vorliebe für den weißen Baumwollzwirn entwickelt zu haben. Jedenfalls biegt es die Schenkel wie an unsichtbare Gewichte gebunden in die Senkrechte – wo sie doch eigentlich in die Waagrechte gestreckt werden sollten.

Links siegt die Schwerkraft, rechts die Eleganz
Links siegt die Schwerkraft, rechts die Eleganz © KK

„Ham ma’s dann?“ fragt Vinzenz Höck keck über die Schulter. Auf die beiden Holme des Barren gestützt, lässt er seine Beine seit gefühlten fünf Minuten kerzengerade in der Luft schweben. Noch bevor bei ihm Anflüge von Anstrengung zu merken sind, muss ich aufgeben. Nichts wird es also aus meiner eleganten Beinwaage. Jetzt nicht (zusammengepresste Lippen). Im zweiten Versuch nicht (Schnappatmung). Und auch im fünften nicht (hochroter Schädel). Abgesehen von den weißen Bleisocken scheine ich mein spärliches Pulverdepot schon an den Ringen verschossen zu haben.

"Kleine" Unterstützung von Junioreneuropameister Vinzenz Höck (rechts) und Trainer Benno Poduschka für "Kleine"-Redakteur Klaus Höfler
"Kleine" Unterstützung von Junioreneuropameister Vinzenz Höck (rechts) und Trainer Benno Poduschka für "Kleine"-Redakteur Klaus Höfler © KK

Erdanziehung? Ausgeknipst

Dort – auf überraschend hoch wirkenden zweieinhalb Metern über (Matten-)Grund – gelingen zwar ein paar halbgrazile Schwünge und Stützelemente – gegen das, was Höck wenig später da oben aufführt, bleibt es aber ein sackähnliches Herumgebaumel. Gut, auf den Ringen hat er Heimvorteil. Auf diesem Gerät wurde er vor zwei Jahren sensationell Junioreneuropameister, ist mehrfacher Staatsmeister und war WM-Teilnehmer: Aber wie er da physikalische Grundgesetze wie die Erdanziehungskraft scheinbar mühelos außer Kraft setzt, nötigt eine Extraportion Respekt ab. Aber er hat ja auch keine Socken an, außerdem Oberarme, so dick wie meine Wadeln und dreizehn Jahre Wettkampferfahrung in einem Körper stecken, der wie ein kompakt geschnürtes Kraftpaket daherkommt.

Neben purer Muskelpower brauche man beim Turnen Beweglichkeit, Koordinationsfähigkeit und Mut, hat Höck beim Einturnen gemeint. Das macht die Sache für einen Laien nicht gerade einfacher. Denn mit strammen Übungen zur Leibeserziehung a la Turnvater Jahn hat das leistungssportliche Kunstturnen nur mehr den Ursprung gemein.

Junioreneuropameister Vinzenz Höck fliegt über dem Seitpferd
Junioreneuropameister Vinzenz Höck fliegt über dem Seitpferd © KK


Von den Profis wird in dieser olympischen Grundsportart heute über Geräte und Matten gesprungen, geschwungen, geschraubt und geflogen, dass einem schon beim Zuschauen schwindlig wird. Und erst recht, wenn man selbst am Reck hängt, am Seitpferd herumschaukelt oder im Purzelbaummodus über die Bodenfläche kullert. Höchstnoten gehen sich da schwer aus, wobei das Bewertungssystem ohnehin undurchschaubar bleibt. Zwei Kampfgerichte entscheiden über Sieg oder Niederlage: Das eine bewertet, ob der Athlet die jeweils zehn Elemente einer Übung vollständig geturnt hat, die zweite Jury urteilt über die Ausführungsqualität.
Grundlage ist ein dicker Katalog, indem festgeschrieben steht, wie viel Zehntelpunkte ein einfacher Handstand, eine doppelte Schraube, ein dreifacher Salto und andere artistische Kunststücke „wert“ sind. Jeden noch so kleinen Fehler ahnden die adler-augigen Kampfrichter mit Abzügen. Bei Höck haben sie diesbezüglich meist recht wenig zu tun. Bei mir? Höchstnöten aus Mitleid, Abzüge für die Socken. . .