Der größte Feind des Faktischen bei Olympischen Spielen ist die Luftlinie. Soll heißen: Wenn man irgendwo nur über die Straße gehen müsste, um ans Ziel zu kommen, ist es meist so, dass man tatsächlich noch einen 200-Meter-Schwenk entfernt ist. Egal, ob mit dem Bus, dem Auto oder zu Fuß. Man kann dieses Bild aber auch als Metapher verstehen. Selten kann man sich Themen rund um Olympia linear annähern, meist braucht es viele Erklärungen und Ergänzungen, bis man wirklich am Ziel ist. So auch diesmal. Das Internationale Olympische Comité (IOC) hat mit der Vergabe nach Südkorea den Weg der Ausweitung der Märkte weiter beschritten, der in vier Jahren in Peking seinen Höhepunkt finden wird.

Dass „neue Märkte“ aber vor allem viele Investitionen bedeuten, sieht man gerade in den Kernmärkten der Spiele kritisch. Hier in Asien ist das nicht so: Olympia ist der Schuhlöffel für Südkorea, nach dem Süden des Landes auch den vernachlässigten Osten in die Moderne zu holen. Dafür braucht es leistungsfähige Verkehrsanbindungen, die unter dem Deckblatt der fünf Ringe durchgepeitscht wurden. Der Hochgeschwindigkeitszug KTX in die Hauptstadt und der nahezu parallel dazu verlaufende Highway sind die neuen Lebensadern, die die Region Gangwon aus dem Dornröschenschlaf wecken sollen. Aber auch das könnte schwierig werden, denn im Gegensatz zur Gegend um Seoul gibt es hier praktisch keine Industrie, die Bevölkerung altert schnell, ist eher rural orientiert.

Schulden werden sicher hinterlassen

Und Schulden wird das Abenteuer Olympia nach den großen Investitionen für die Infrastruktur zweifellos auch hinterlassen. Logisch, dass offenbleibt, wer die neuen Sportanlagen vor dem Fall in diesen bewahren soll. Wie man hört, gibt es etwa für die nagelneue Bob- und Rodelbahn noch keinen Betreiber. Und das, obwohl hier vor wenigen Tagen Skeleton-Fahrer Yun Sung-bin das erste Winter-Gold für sein Land außerhalb von Eishallen erobert hatte. Im schlimmsten Fall wird das Eis schmelzen und die Anlage langsam, aber sicher verrotten. Kein schöner Anblick im sonst so adretten Alpensia, auf dem auch künftig im Olympia-Park, wo sich Skispringer, Langläufer, Kombinierer und Biathleten duellierten, eher Golf gespielt als Langlauf betrieben werden wird.

Nachhaltigkeit ist eines der großen Modewörter, die sich das IOC auf die Fahnen schreibt. In einigen Dingen hat man dem in Pyeongchang schon Rechnung getragen: etwa mit dem Stadion für die Eröffnungs- und Schlussfeiern der Spiele und der folgenden Paralympics für 35.000 Personen, das nur temporär errichtet wurde - logisch, dass eine 45.000-Einwohner-Stadt eine Arena dieser Größe auf Dauer nicht benötigt. Zumal eines sicher scheint: Ja, Wintersport ist in Südkorea in den vergangenen 16 Tagen ins Bild gerückt, mehr als jemals zuvor. Ja, dank der Berichterstattung über die Spiele in gefühlten 20 TV-Stationen und in den Zeitungen hat auch der Ticketverkauf noch einmal angezogen, sogar die am Anfang aufgrund der vielen Verschiebungen eher halb leeren Stadien bei den Alpinen füllten sich mit Fortdauer der Spiele immer mehr. Aber bleiben wir am Boden: Viele Südkoreaner werden auch künftig nicht ihr Wochenendprogramm nach Jeongseon verlegen, um die Olympia-Abfahrt unter zwei Bretter zu nehmen. Auch wenn der ursprünglich geplante Rückbau der Piste in das Naturschutzgebiet aus Kostengründen schon infrage steht. Und die Tradition, Wintersport zu betreiben, kann auch über 16 Tage Olympia nicht in die Gene geimpft werden.

Die Beginnzeiten waren teilweise verrückt

Was sonst noch von den Spielen bleibt? Etwa, dass das Diktat der TV-Stationen noch weiter zugenommen hat und teils verrückte Beginnzeiten zur Folge hatte. Das Skispringen der Herren von der Normalschanze war erst weit nach Mitternacht zu Ende, die Biathleten hatten es bei ihren Bewerben zwar taghell, aber das Tageslicht kennen sie nur noch vom Hörensagen, auch der eisige Wind machte es für Athleten wie für Besucher nicht einfacher. Dafür waren sie in den Kernmärkten zu guten Sendezeiten zu sehen. Natürlich, es sind die Fernsehbilder, die die Grundlage der Erinnerung an diese Spiele bilden, und doch ist es bedenklich, wie sehr alles dem Diktat der Bilder unterworfen wird. So sehr, dass auch der Sport leidet. Bestes Beispiel: der Slopestyle-Bewerb der Snowboard-Damen rund um Anna Gasser.

Angeblich hatte man da die Athletinnen vor die Wahl gestellt, die Show mitzumachen oder den Bewerb ganz zu verlieren. Das Endergebnis war eine Farce, ein Schaden für den Sport, denn keine der Damen war in der Lage, bei böigem Sturm das zu zeigen, was man sehen will - von der Verletzungsgefahr gar nicht zu reden. Womit wir bei einem der größten Kritikpunkte sind, die auch das Österreichische Olympische Comité vehement vorbringt: Die medizinische Versorgung an den Strecken war erschreckend schlecht - mit dem traurigen Höhepunkt, dass Snowboardcrosser Markus Schairer mit gebrochenem Halswirbel aufs Board gestellt wurde oder Skicrosser mit Unterschenkelbruch mit dem Privatauto stundenlang ins Krankenhaus unterwegs waren. Österreichs Skicross-Direktorin Sabine Wittner renkte dem Athleten sogar selbst den Bruch ein, um ein Absterben des Beins zu verhindern - ohne Schmerzmittel. Das Bedrückende, abgesehen von der Tatsache, dass man bei Olympia-Kursen davon abgehen sollte, alles immer noch spektakulärer machen zu wollen: Auch in Sotschi 2014 gab es schon einen ähnlich laschen Umgang mit diesem Thema. „Angesichts der folgenden Spiele in Asien muss man da schnellstens reagieren“, fordert auch ÖOC-Präsident Karl Stoss. Rein sportlich fordert er angesichts der 14 Medaillen vor dem Schlusstag wenig, er darf zufrieden sein, auch noch vor dem Austragungsland zu liegen - und angeführt von Doppel-Olympiasieger Marcel Hirscher viele „Sport-Märchen“ nach Hause geliefert zu haben, obwohl es auch diesmal nicht ohne Enttäuschungen abging.

Ein Märchen namens Ledecka

Das größte Märchen dieser Art ging aber auf das Konto einer Tschechin. Ester Ledecká schaffte es als erste Sportlerin, bei denselben Spielen in zwei Sportarten Gold zu holen. Was das für eine Leistung ist, ist kaum in Worte zu fassen.

Womit wir den letzten Schwenk wagen, um zum Ziel zu kommen: Denn Südkorea wollte der Welt perfekte Spiele präsentieren. Und sich als technologisches Zukunftsland darstellen. Was die Sportstätten betrifft, die Nähe zu den zwei Zentren, ist das gelungen. Was die Organisation betrifft, ebenso. Auch wenn es, wie immer, am Beginn kleine Pannen und Irrungen gab, so dirigierte vor allem die schier endlose Armee an freiwilligen die Olympia-Schar lächelnd und gut gelaunt durch 16 Tage und sammelte so wertvolle Pluspunkte.

Den wichtigsten Punkt sollte man nicht vergessen: Wenn etwas bleibt von diesen Spielen, dann sind es nicht Medaillen. Dann ist es die Annäherung zwischen Nord- und Südkorea, der gemeinsame Einmarsch der verfeindeten Länder, die nordkoreanischen Cheerleader. Es war der leichte Hauch von Versöhnung, den Olympia in Gang brachte. Man muss abwarten, wie sich die politisch verzwickte Situation entwickelt. Sicher ist: Die Luftlinie zum Frieden wird es nicht geben. Fast wie bei Olympia.