Stürmischer Wind vor den Orkney-Inseln, die Wellen peitschen sechs bis acht Meter in die Höhe. Unwirtliche Bedingungen an der küstennahen Meeresoberfläche. 62 Meter tiefer, am Meeresgrund vor der schottischen Küste, türmt sich ein 33 Meter hohes und 1000 Tonnen schweres Kraftwerk auf, das wie ein Windrad aussieht. Ein Windrad unter Wasser? Fast. Es ist eine sogenannte Gezeitenströmungsturbine, die durch die von Ebbe und Flut verursachte starke Wasserströmung angetrieben wird.

Seit 2011 ist hier vor den Orkneys eine solche Gezeitenströmungsturbine installiert, die einsam ihren „Dienst“ versieht. Doch mit dieser Einsamkeit ist es bald vorbei. Denn vor wenigen Monaten ging bei „Andritz Hydro Hammerfest“ der weltweit erste kommerzielle Auftrag für einen Unterwasserpark für Gezeitenströmungsturbinen ein.
Bis 2016 werden drei davon im schottischen Gezeitenpark im Inner Sound des Pentland Firth zum Einsatz kommen. Und das soll erst der Anfang sein.

Denn der Auftraggeber, MeyGen, will hier langfristig 269 dieser Turbinen mit einer Gesamtleistung von knapp 400 Megawatt installieren. So könnten 175.000 schottische Haushalte mit Strom aus dem Meer versorgt werden.
Tatsächlich sind diese Turbinen nicht nur optisch, sondern auch von der grundsätzlichen Funktionsweise her Windrädern nicht unähnlich. Allerdings bewegt sich das „Windrad unter Wasser“ in einem Medium, das 800 Mal so dicht ist wie Luft. Dafür aber – im Gegensatz zum Wind – zu 100 Prozent vorhersagbar. Denn nach der Gezeitenströmung kann man die Uhr stellen, „man kann schon heute sagen, wie die Strömung an einer bestimmten Position in 20 Jahren am Tag x um fünf Uhr am Nachmittag sein wird und damit, wie viel Strom die Anlage produzieren wird. Beim Wind werden wir das nie schaffen“, erklären Experten der Andritz Hydro.

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Kurz: In dieser Technologie ruht riesiges Zukunftspotenzial, denn sie sorgt nicht nur für erneuerbare und nachhaltige, sondern auch für absolut vorausberechenbare Energie. Und die Andritz Hydro spielt – da unten auf dem Meeresboden – technologisch ganz oben mit.

Was hat nun aber die Oststeiermark mit dem Ozean zu tun? Im Andritz-Konzern sogar sehr viel. Denn der Hydro-Standort in Weiz spielt für diese Gezeiten-Technologien eine Schlüsselrolle. Weiz ist das weltweite Kompetenzzentrum für Generatoren von Andritz Hydro. „Unsere Mitarbeiter in Weiz sind hoch spezialisierte Fachkräfte für Entwicklung, Design, Engineering, Fertigung und für die äußerst komplexen Montagen der Generatoren. Das Know-how der Mitarbeiter aus Weiz ist daher auch essenziell für unsere Ocean-Projekte“, betont Wolfgang Semper, der als Andritz-Vorstand den Hydro-Bereich verantwortet. So wurde auch die Turbinengondel der Anlage in Schottland in Weiz zusammengebaut, die Montagen der Anlagen erfolgen ebenfalls durch die steirischen Spezialisten. Auch sämtliche Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten im Zusammenhang mit Generatoren erfolgen in Weiz selbst oder federführend durch Weizer Ingenieure.

Weizer Einsatz auf rauer See

Gerade die Montage ist eine enorme Herausforderung. Die Anlagen müssen dort installiert werden, wo die jeweils höchsten Strömungsgeschwindigkeiten herrschen. Dabei müssen punktgenaue Absenkungen und Verbindungen geschaffen werden. „Bei den Orkney-Inseln wurde die Anlage auf rauer See bei einem Wellengang von sechs bis acht Metern und Windstärken von acht Beaufort (das entspricht rund 70 km/h Wind, Anm.) installiert“, erinnert man sich in Weiz.

Gezeitenkraftwerk in der Swansea-Bucht
Gezeitenkraftwerk in der Swansea-Bucht © hydro

Dieser Technologiebereich beschränkt sich aber nicht auf Gezeitenströmungskraftwerke – deren Einsatz sich noch in einem frühen Stadium befindet. Auch bei Gezeitenkraftwerken, die über den Tidenhub, also den durch die Gezeiten verursachten Wasserhöhenabstand zwischen Ebbe und Flut, Strom gewinnen. Auch bei diesen Kraftwerkstypen setzt Andritz Hydro – und bei den Generatoren federführend auch der Standort Weiz – bereits spektakuläre Anlagen um. „Unser erster großer Einsatz der Rohrturbinentechnologie im Ozean erfolgte beim weltweit größten Gezeitenkraftwerk Sihwa in Südkorea im Jahr 2006, die Inbetriebnahme erfolgte 2008“, sagt Andritz-Sprecher Oliver Pokorny.

Für Gezeitenkraftwerke, die mit dem Tidenhub arbeiten, gebe es keine technische Grenze, „sehr wohl aber eine wirtschaftliche, die hauptsächlich durch den Bau eines Damms im Meer zum Abschotten einer Bucht bestimmt ist“. Erst 2014 hat Andritz Hydro den Auftrag zur Modernisierung des weltweit ältesten Gezeitenkraftwerks La Rance, Frankreich, erhalten. Die Weizer Ingenieurskunst ist auch bei Gezeitenkraftwerken gefragt: „Alle Generatorkomponenten für Sihwa, Südkorea, stammen aus der Steiermark, ebenso wie die Generatorerneuerung für La Rance, Frankreich“, so Pokorny.

Der jüngste Erfolg für Andritz Hydro in diesem Technologiefeld ist der Zuschlag für die Lieferung der Ausrüstung für Swansea Bay von Tidal Lagoon in Südwales, bei dem die Lieferung von 16 Turbinen zu jeweils 20 Megawatt vorgesehen ist. Das Auftragsvolumen liegt bei 250 Millionen Euro. Und auch hier ist der Auftrag mit einer weltweiten Besonderheit verbunden: Die Stromgewinnung erfolgt zwar ebenfalls aufgrund des Tidenhubs zwischen Ebbe und Flut. „Im Gegensatz zu Sihwa oder La Rance wird aber keine Bucht abgeschottet, sondern weltweit erstmals eine künstliche Lagune durch einen ringförmigen Damm im Meer geschaffen, der nur mit einem kleinen Anteil die Küste berührt“, sagt Pokorny.