Die chinesischen Aktienmärkte sind seit Wochen auf Talfahrt. Auch Anleger in anderen Ländern werden immer nervöser. Zu Recht?
HEINER FLASSBECK: Zur Nervosität besteht Anlass. Aber ob die Börse in China zehn Prozent auf oder ab geht, ist nicht relevant. Das ist nicht dramatisch, denn China ist jedes Jahr um zehn Prozent gewachsen und erlebt eine Korrektur. Die fallenden Rohstoffpreise sind eher ein Indikator für die lahmende Weltwirtschaft. In den vergangenen Jahren waren die Preise maßlos überzogen.

Es scheint, als käme ein neuer Krisenherd immer dann, wenn Erholung und Aufschwung in Sicht sind. Stichwort Russland/Ukraine, Griechenland, China.
FLASSBECK: In der Tat, der Neoliberalismus hat einen von Krisen gebeutelten Kapitalismus geschaffen. Wir haben seit 2011 eine Rezession in Europa, aber niemand ist bereit, Impulse für Wachstum zu setzen. Italien ist in einer schweren Rezession, Frankreich hat über zehn Prozent Arbeitslosigkeit, Deutschland lebt nur vom Export, aber wir tun so, als wäre alles in Ordnung. Und wenn dann die Schwellenländer unruhig werden, werden wir das auch.

Wie geht es mit China weiter?
FLASSBECK: Wenn ich das wüsste, würde ich spekulieren. Alle sind schockiert, weil sie glauben, Wachstum und Wohlstand müssten vom Himmel fallen. Eine seit Jahren stagnierende Weltwirtschaft tendiert aber dazu, irgendwann zusammenzuklappen. Die Wirtschaftspolitik versagt, weil kein Politiker eine Idee davon hat, wie dieses System funktioniert. Die Einzigen, die sich bemühen, sind die Notenbanken.

Ist es sinnvoll, dass die Europäische Zentralbank um Hunderte Milliarden Staatsanleihen kauft?
FLASSBECK: Die EZB hat zumindest das Problem verstanden. Das ist der letzte Versuch, etwas zu tun in einer deflationären Situation. Ohne zusätzliche Nachfrage reicht das aber nicht, um die Wirtschaft zu bewegen.

Dann sind die einzelnen Staaten gefordert – welche Möglichkeiten haben die?
FLASSBECK: Geld ausgeben! Der deutsche Staat müsste 100 Milliarden Euro am Kapitalmarkt aufnehmen und schnell ausgeben.

Und wofür?
FLASSBECK: Das ist zweitrangig. Es gibt aber genügend Infrastrukturdefizite, die man beseitigen kann. Das Geld bekommt man am Kapitalmarkt derzeit für null. Wer das nicht tut, versündigt sich an künftigen Generationen. Wir haben ein Sparproblem in dieser Welt, zu wenige sind bereit, sich zu verschulden, deswegen sind die Zinsen bei null. Der jetzige Überschuss im deutschen Staatshaushalt ist eine Katastrophe, weil er die Ersparnisse vergrößert. Aber wer ist schon bereit, darüber auch nur nachzudenken?

Deutschland hat jetzt schon eine Schuldenquote von 75 Prozent, in Österreich sind es sogar 85 Prozent. Und trotzdem sollen wir uns weiter verschulden?
FLASSBECK: Diese Quoten sind irrelevant. In Japan liegt die Schuldenquote bei fast 250 Prozent. Um Wachstum zu schaffen, muss der Staat ran, weil es kein anderer tut, wie viel man auch „reformiert“. Will man das nicht, muss der Bundeskanzler Faymann sich hinstellen und sagen: „Ihr müsst aufhören zu sparen. Gebt sofort all euer Geld aus.“

Mehr Schulden sollen wirklich unser Wirtschaftssystem retten?
FLASSBECK: Ohne Schulden gibt es keine Marktwirtschaft. Früher haben sich die Unternehmen verschuldet, das war vollkommen richtig. Heute wollen sie sparen. Deswegen warten wir drauf, dass sich das Ausland verschuldet. Aber das funktioniert nicht mehr.

Ist Wachstum unabdingbar?
FLASSBECK: Ich würde sagen, dass Entwicklung unabdingbar ist. Wir können nicht stehen bleiben, sonst brauchen wir ein anderes System. Aber die Politik kommt schon jetzt nicht zurecht. Wie soll man da noch einen komplizierten ökologischen Strukturwandel, der durchaus möglich ist, dazunehmen?

Die Hypo hat vor Jahren am Balkan das gemacht, was Sie fordern – ermöglicht, dass Unternehmen Schulden machen und investieren.
FLASSBECK: Aber die sind da, wie viele österreichische Banken in Osteuropa, naiv hingegangen und dachten, dass 100 Jahre Wirtschaftswunder angesagt seien. Unter Bedingungen, die niemals stabil waren, wurde da das Geld hingetragen. Man hat nicht erkannt, was auf dem Balkan läuft. Und auch die europäische Politik hat versagt. Kroatien ist seit fünf Jahren in einer Rezession ohne Aussicht auf Besserung.

Die Rechnung zahlen auch die österreichischen Steuerzahler.
FLASSBECK: Klar, wer sonst? Dass aber Wien jetzt Kärnten Hilfe verweigert, ist wirklich stumpfsinniges schwäbisches Haushaltsdenken. Die Bundesregierung sollte Geld am Kapitalmarkt aufnehmen und Kärnten zur Verfügung stellen, damit hier investiert und normal gewirtschaftet werden kann.

Griechenland muss für das Milliardenhilfspaket einen harten Sparkurs fahren.
FLASSBECK: Hilfe war es nur indirekt, damit wurden vor allem alte Schulden zurückgezahlt. Das Geld, das für Investitionen gebraucht wird, gibt es nicht. Es wird weiter gekürzt, wo alles am Boden liegt. Die Probleme der Euro-Zone werden damit größer.

Hat die Euro-Zone überhaupt noch eine Zukunft?
FLASSBECK: Unter den gegenwärtigen Umständen nicht, so fahren wir gegen die Wand. Wer die wirtschaftliche Entwicklung vernachlässigt, provoziert das Ende der Euro-Zone. Syriza war ein lächerlicher Feind, denn die sind europatreu und wollten den Euro. Aber wenn die rechten und antieuropäischen Kräfte wie Marie Le Pen in Frankreich und Italien an die Macht kommen, kann es ein schnelles Ende geben. Deutschland und Österreich werden dann ihre Lethargie und Unfähigkeit teuer bezahlen.


INTERVIEW: WOLFGANG FERCHER