Die Wende im Leben von Mostafa Mohamadi kam am Nationalfeiertag 2008. Die Kleine Zeitung berichtete an diesem Tag von fünf minderjährigen Flüchtlingen, die seit Wochen in der Jugendpsychiatrie des Landeskrankenhauses Sigmund Freud (LSF) untergebracht seien. Andere Einrichtungen wollten sich, „wegen hohen Gewaltpotenzials“, der traumatisierten 16- und 17-Jährigen nicht mehr annehmen. Mostafa Mohamadi war einer von ihnen. Für den jungen Afghanen war es gleichzeitig der letzte Tag in Hoffnungslosigkeit.

Februar 2015: „Mama, ist genug Besteck draußen?“, tönt es in breitem steirischen Dialekt aus der Küche eines Einfamilienhauses in St. Martin im Sulmtal. Kurz darauf serviert ein junger Mann den Gästen im Wohnzimmer Kaffee und Apfelkuchen. „Danke Mostafa“, lächelt seine „Mama“ – die pensionierte Volksschullehrerin Maria Huber.

Auch deren Leben änderte sich an diesem Nationalfeiertag 2008. „In jungen Jahren wollten mein Mann und ich ein Kind aufnehmen, das sonst keine Chance hätte“, erzählt sie. Dieser Wunsch geriet mit den Jahren in Vergessenheit, alle Aufmerksamkeit galt den drei eigenen Kindern. Doch der Bericht in der Zeitung holte den Gedanken zurück. Am 29. Oktober 2008 stellte sich Maria Huber im LSF vor. Kurze Zeit später fragte sie: „Mostafa, willst du mein Sohn werden?“ Der verstand nicht gleich: „Sonne?“

Tägliches Üben

Heute ist der 22-Jährige vollwertiges Familienmitglied, auch wenn eine offizielle Adoption gar nicht mehr nötig war – bald nach dem Einzug bei den Hubers wurde er volljährig. Mama Maria Huber lacht: „Bei uns in der Gegend ist er inzwischen so oder so der Huaba-Bua.“

Das neue Leben begann für Mohamadi mit tagtäglichem Lernen. Die Buchstaben wurden geübt, die Wörter, die Schrift. Maria Huber ließ ihren neuen Sohn jede Tätigkeit konjugieren: „Ich öffne die Tür, du öffnest die Tür, er/sie/es öffnet die Tür.“ Nach zwei Jahren im Poly, das erste diente dem Festigen der Sprache, fand er einen Lehrplatz als Spengler und Lackierer. Derzeit lässt er sich zum Schlosser umschulen, um im vom Pflegevater aufgebauten Betrieb arbeiten zu können. Irgendwann, wenn Frieden herrscht, würde der 22-Jährige gerne in sein Heimatland zurückkehren: „Mein Traum ist es, dort eine Autowerkstatt zu eröffnen.“

Als er 15 war, war davon keine Rede. Sein Vater, ein Soldat, kämpfte gegen die Taliban – „bis die ihn eines Tages mitgenommen haben“. Als sein älterer Bruder vor dem Elternhaus erschossen wurde, flehte ihn seine Mutter an zu fliehen. Beim Erzählen wird sein Blick starr: Von ihr und den vier jüngeren Geschwistern habe er nie wieder etwas gehört.

Frust nach der Flucht

Versteckt im Lkw, am Schiff und im Zug landete Mohamadi nach mehreren Versuchen in Wien. Über Traiskirchen kam er in ein Heim nach Graz. Er war am Ziel, doch nach wenigen Wochen stellte er fest: „Es ging mir wie eh und je.“ Es sei meistens nichts zu tun gewesen, im Haus habe man ihn gezwungen, von der 150-Euro-Grundversorgung „Strafgelder“ abzugeben und das Angebot eines Deutschkurses sei erst sehr spät gekommen. Was er tat? „Man geht in den Park, trifft die falschen Leute.“ Sein Frust entlud sich bei Randalen, selbst verletzte er sich mit Rasierklingen.

Das Schlimmste in jener Zeit sei die Untätigkeit gewesen, so Mohamadi. Er hätte sich gewünscht, dass es gleich nach der Ankunft einen Deutschkurs gegeben hätte: „Und allgemeine Gesetzeskunde und Tipps, wie sich Leute hier verhalten.“ Sonst könne man sich ja nicht darauf einstellen.

Die vier anderen Jugendlichen, die mit ihm im LSF landeten, seien nach ihrer Behandlung wieder in die ursprünglichen Flüchtlingsbetreuungsstätten zurückgekehrt, so Primaria Katharina Purtscher-Penz vom LSF. Die vier Burschen habe sie seit der Volljährigkeit leider aus den Augen verloren. Auch Mohamadi weiß nicht viel. Nur: „Es geht ihnen nicht so gut.“

Er selbst lebt inzwischen neben dem Haus der Pflegeeltern in seinen eigenen vier Wänden. Er komme nur noch mit Wäsche und Sorgen, lächelt Maria Huber, die ihre Kinder gerne umsorgt. Seit den Terroranschlägen in Paris fühlt sich der 22-Jährige dennoch nicht ganz wohl. Derzeit gehe er nicht gerne fort: „Ich fühle mich seitdem wieder mehr als Ausländer.“ Die Blicke von vielen seien anders geworden.