Im Ski-Weltcup gilt die Abfahrt vom Lauberhorn als Dinosaurier. Faszinierend, einzigartig ist sie, wie die Tiere der Urzeit. Die sind allerdings ausgestorben. Ein Schicksal, das Wengen nicht gerade droht - doch Tatsache ist auch: Der malerische Ort hoch über Lauterbrunnen und dem Tal, auf der Sonnenseite geschmiegt an den steilen Hang des Männlichen-Bergs, mit märchenhaft schönem Ausblick auf das imposante Bergtrio Eiger-Mönch-Jungfrau, hat schon bessere Zeiten gesehen. In den Kurort, auf 1240 Metern gelegen und einzig mit der seit 1893 existierenden Wengernalpbahn zu erreichen, führt nur ein schmaler Fußweg. Zu schmal für Automobile aller Art. Eine Tatsache, die Wengen im Berner Oberland zu dem gemacht hat, was es ist: eine Oase der Ruhe, ein Hort der Entschleunigung.

Es stimmt schon: Sitzt man einmal in der (immer pünktlichen) Zahnradbahn, die genau 15 Minuten hinauf braucht, schaltet der Körper samt Geist in einen anderen Modus. Einer, der den Bewohnern hier anscheinend gegeben ist, was nicht nur positive Seiten hat. Den Wengen scheint von der Zeit eingeholt zu werden, wirtschaftlich läuft es lange nicht so rosig wie einst. Das Geschäftsmodell "Ruhe und Entschleunigung" hat Kratzer bekommen. 21 Prozent Rückgang musste der 1200-Einwohner-Ort mit 4600 Gästebetten (2500 in Wohnungen, Appartements und Ferienheimen, 2100 in 20 Hotels) 2012 hinnehmen, die Suche nach Ursachen ist voll im Gang. Und, wie die "Berner Zeitung" schrieb, manche brüten sogar Ketzerisches aus, nämlich ein Ende des Bahn-Monopols oder, wie die "Berner Zeitung" schrieb: "Wengen ringt mit seiner Idylle".

Der Grund liegt auf der Hand: Obwohl, wie Wengens Tourismus-Präsidentin Judit Graf Engi erklärt, "Millionen" in Wellness und Revitalisierung investiert wurden, hinkt der Ort im Vergleich mit anderen hinterher. Das Ambiente ist, gelinde gesagt, verstaubt, die Hotellerie wahrlich nicht auf modernem Niveau. Dazu kommt: Der große Trumpf Wengens ist zugleich sein Damoklesschwert. Zwar sieht man im autofreien Ort neben diversen Elektro-Fahrzeugen immer öfter Klein-Transporter und Ähnliches, aber Logistik hier ist teuer. Ein Beispiel: Ein 30.000-Kilo-Heiztank muss mit 1000-Liter-Tankfahrzeugen befüllt werden. Und wenn Bauarbeiten durchgeführt werden, kann der Beton nur in Kleinstportionen geliefert werden. Sogar wenn man nämlich Laster heraufbringen würde, so wäre für sie in den engen Gassen kein Platz. Die logische Folge: Baukosten sind hier um bis zu 50 Prozent höher; die Kosten für Wohnungen und Appartements sind es ohnehin. Was wiederum das Phänomen zur Folge hat, dass Wengen für Einheimische unerschwinglich wird. Die Folge: ein Rückgang der Schülerzahlen. Gerade 70 Kinder werden derzeit noch in sechs Klassen unterrichtet, Tendenz fallend. Steigend ist dafür die Eifersucht im Tal auf das scheinbar mondäne Wengen.

Dazu kommt, dass die Wengernalpbahn plant, künftig eine Verbindung auf das Jungfraujoch anzubieten, die nicht über Wengen, sondern über Grindelwald führt. Wengen würde so vom Gruppentourismus auf das "Dach Europas", wie sich die Station auf dem Gletscher gerne nennt, ausgeschlossen, soll aber mit neuen Zug-Garnituren besänftigt werden. Eine Straße ist unrealistisch, auch aus finanzieller Hinsicht. Überdies kann, so denken hier viele, ohnehin nicht sein, was nicht sein darf: Eine Straße würde das Idyll zerstören, von dem Wengen lebt. Auch wenn das Idyll Wengen selbst zerstören könnte. Daran will hier aber keiner denken. Auch wenn Dinosaurier ausgestorben sind - man bleibt lieber einer.