Würde nicht gerade offiziell ein das gesamte Wochenende lang zelebrierter Feiertag herrschen, könnten in Moskau auch die Tage der Tarnung und Täuschung ausgerufen werden. Denn derzeit sei nichts so wie sonst, wird dem Besucher der russischen Metropole erklärt. Dort, wo üblicherweise Tausende Autos die zehnspurige Leningrader Chaussee in einen kilometerlangen Parkplatz umfunktionieren, kann ausnahmsweise aufs Tempo gedrückt werden. Und so mancher Moskowiter nützt die ungewohnte Bewegungsfreiheit im Individualverkehr und reduziert die Fahrzeit mit ca. 140 km/h im Stadtgebiet um ein Vielfaches.

Rund 5,5 Millionen Autos und 15 Millionen Bewohner, also fast doppelt so viele wie Österreich, beherbergt die Hauptstadt, es könnten auch 20 Millionen sein, denn viele lassen sich nicht registrieren. Jetzt ist Moskau entvölkert, und das liegt daran, dass Freizeit und warme Witterung die Menschen in die Flucht treiben. Sie suchen ihre im weiten waldreichen Umland verstreuten Datschas (Wochenendhäuschen) auf und schnappen nach Luft. Trotzdem halten sich am Abend zum silbernen „Tag Russlands“ anlässlich der Deklaration der Unabhängigkeit am 12. Juni 1990, noch genügend Leute in der Stadt auf, um den Roten Platz bei einem Konzert zu füllen. 50.000 sind gekommen und lauschen der Musik von Tschaikowsky & Co.

An den Werktagen wird gleich nebenan im Kreml gearbeitet, von höchster Stelle aus. Wladimir Putin geht laut offiziellen Angaben fast täglich seinen Amtsgeschäften nach, nur dass der Präsident nicht mehr im Auto das Tor passiert, sondern sich im Hubschrauber einfliegen lässt. Die Sicherheit sei nicht mehr gewährleistet, wegen der ukrainischen Gefahr, wie es heißt. Andere lebten noch gefährlicher, vor allem Putins bedeutendster Gegenspieler Boris Nemzow, der auf einer in Steinwurfweite vom Kreml liegenden Brücke im Februar erschossen wurde. Auf jenem Moskwa-Übergang war 1987 der damals 18-jährige Deutsche Mathias Rust mit seiner Propellermaschine mitten im Herz des Sowjetreichs gelandet.

Tarnung ist auch das Gebot der Stunde im russischen Fußball-Team, das im abbruchreifen Torpedo-Stadion unter praller Mittagssonne das Abschlusstraining absolvierte. Ein Hinweis auf Verfall? Nun, der Rest der Stadt ist von zahllosen Baustellen übersät. Neue Straßen und neue Stadien sind im Entstehen. Es sieht so aus, als könnten die Russen die Fußball-Weltmeisterschaft 2018 nicht mehr erwarten.

HUBERT GIGLER, MOSKAU