Herr Koller, Wien ist kürzlich zur lebenswertesten Stadt der Welt gekürt worden. Haben Sie beim ÖFB einen Antrag auf Dauer-Bleiberecht gestellt?
MARCEL KOLLER: Nein, habe ich nicht. Ist ja nicht zum ersten Mal der Fall und Zürich schon wieder Nummer zwei. Aber ich fühle mich wohl hier. Derzeit ist die Vertragssituation bis Ende des Jahres ausgelegt. Und wenn wir uns qualifizieren, läuft es bis Mitte 2016.
Sie haben es aber nicht bereut, im Vorjahr den Schweizern einen Korb erteilt und in Österreich verlängert zu haben?
KOLLER: Ja, ich habe ja auch ein paar Tage Zeit gebraucht, um diese Entscheidung zu treffen. Und es ist dann meistens so, wenn ich das richtige Gefühl habe, dann bleibe ich dabei. Und der Erfolg bestätigt ja meine Entscheidung.
Wie nehmen Sie die Rückmeldungen zum anhaltenden Aufwärtstrend im Nationalteam auf?
KOLLER: Natürlich positiv. Man spürt die Euphorie im Lande. Dass die Leute zum Nationalteam stehen, dass sie Freude haben und hoffen, dass wir dann gemeinsam nach Frankreich fahren.
Was stimmt Sie zuversichtlich, dass die im Herbst begonnene Serie fortgesetzt werden kann? Welche Faktoren sind maßgebend?
KOLLER: Das sind natürlich die Spieler. Wir kennen uns jetzt drei Jahre, sie wissen Bescheid über die Philosophie, wie wir offensiv auftreten wollen, was wir in der Defensive verlangen. Und dann ist da noch das Team um das Team. Wir sind alle fokussiert und das ist eine gute Voraussetzung dafür, am Ball zu bleiben und nicht abzuheben oder zu denken, wir könnten jetzt locker in die nächsten Spiele gehen.
Die Mentalitätsfrage wurde schon wiederholt gestellt. Wie stark ist es Ihnen gelungen, den Österreichern diese typischen nationalen Merkmale abzugewöhnen?
KOLLER: Das hat natürlich eine gewisse Zeit gedauert. Aber die Spieler haben gespürt, dass es honoriert wird, dass die Zuschauer ins Stadion kommen, wenn sie 100 Prozent Vollgas geben. Dass es positive Resonanz gibt, dass sie mithalten können mit den Top-Teams. Und das ist wichtig für das Selbstvertrauen, um den Schritt weitergehen zu können. Und für mich war auffallend, im Zuge des Russland-Spiels, dass sogar die Journalisten geschrieben haben, dass wir auch bei einem Sieg immer noch nicht bei der EM sind. Das war das erste Mal, dass ich hier so etwas gelesen habe. Da habe ich gespürt, dass wir nicht nur im Team diese Einstellung verinnerlicht haben.


Das heißt, Sie nehmen für sich in Anspruch, dass Sie die Nation schon in ihrem Sinn erzogen haben?
KOLLER: So weit würde ich nicht gehen, aber es freut mich.
Wie beurteilen Sie jetzt zum Start 2015 die Ausgangslage in der EM-Qualifikation?
KOLLER: Wir sind Tabellenführer, das wollen wir bleiben. Wichtig ist das nächste Spiel. Jetzt kommt Liechtenstein, dann Russland. Wir müssen von Spiel zu Spiel denken und dürfen nicht spekulieren. Da gibt es ja die Rechnungen mit den zwei Spielen gegen Liechtenstein und dem Heimspiel gegen Moldawien. Wer aber gibt uns die Garantie, dass wir da gewinnen? Montenegro hat in Liechtenstein 0:0 gespielt. Ich weiß, was auf uns zukommt.
Wie sieht eigentlich ihre Vorstellung von einem perfekten Fußball mit dem Nationalteam aus?
KOLLER: Mir hat das Spiel gegen Montenegro sehr gut gefallen. Die Spieler haben alles so umgesetzt, wie ich mir das vorstelle.
Sie haben als Liebhaber der klassischen Musik gemeint: „So perfekt wie die Wiener Philharmoniker sind wir noch nicht“. Aber ein Orchester hat keinen Gegner.
KOLLER: Ja, dazu gibt es eine Geschichte. Du sitzt im Konzert und plötzlich fängt ein Zuhörer zu husten an. Das ist dann schon störend. Und da habe ich mir gedacht, was passiert da bei uns? Du wirst ausgepfiffen und hast auch noch einen Gegner. Damit musst du umgehen. Also ist das schon eine Riesenleistung von den Spielern, mit 50.000 im Stadion.
Sie sind ja als akribischer Planer bekannt. Aber Sie müssen im Gegensatz zu einem Dirigenten wesentlich mehr improvisieren.
KOLLER: Du musst viele Eventualitäten einberechnen. Der Zufall spielt mit. Das musst du dann wegstecken. Da hilft aber auch die Erfahrung, die dann wieder zu gewisser Lockerheit führt.
Das heißt, diese Lockerheit ist das Stück Österreich, das Sie inzwischen annektiert haben?
KOLLER: Ja, aber es stellt sich immer die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt. Das Gemütliche, das Lockere, mag ich ja auch, aber nicht, wenn es darum geht, ein Spiel gewinnen zu müssen.
Sie sind als Arbeiterkind aufgewachsen. Wie stellt sich der soziale Aufstieg aus Ihrer persönlichen Perspektive dar, auch im Zusammenhang mit den enormen Summen, die heute im Spiel sind?
KOLLER: Durch den Fußball hast du natürlich ganz andere Möglichkeiten als ein normaler Arbeiter, wenn du das Glück hast, gut zu sein und dann in einem guten Team zu spielen. Und Fußball ist eine Top-Sportart, wo viel Geld generiert werden kann. Da wird keiner sagen, gib mir ein bissl weniger. Ob das gerecht ist, ob die Summen das rechtfertigen, ob das ein Spieler wert ist, ist dann wieder eine andere Frage.
Aber mit dem Hintergrund Ihrer persönlichen Geschichte ist das doch eine besondere Erfahrung?
KOLLER: Ich weiß, woher ich komme, ich laufe nicht wie ein Gockel durch die Gegend. Ich weiß, wie mein Leben verlaufen ist, was zu tun ist, um was erreichen zu können. Mir ist wichtig, dass ich mich wohlfühle in meiner Haut.
Bei Ihrer Bestellung zum Teamchef gab es zum Teil heftige Kritik von österreichischen Fußballgrößen. Wie ist das Verhältnis zu diesen Personen und gab es die eine oder andere Entschuldigung?
KOLLER: Es muss sich eigentlich keiner entschuldigen. Mit Herbert Prohaska habe ich öfter zu tun. Mit Hans Krankl weniger, aber wenn ich ihn sehe, können wir auch miteinander sprechen. Und Werner Gregoritsch, der ist ÖFB-U-21-Trainer, das ist mittlerweile auch ganz anders. Nein, das spielt keine Rolle. Ich bin auch der Überzeugung, dass sie damals nicht gut informiert waren, dass es andere Interessen gab. Und das Thema Nationaltrainer ist emotionaler besetzt. Wenn da ein Ausländer kommt, denkt der eine oder andere, kann das nicht ein Eigener sein. Das ist doch ganz normal.
Und welches Einvernehmen haben Sie mit ihren Landsleuten?
KOLLER: Ein gutes. Sie haben meine Entscheidung respektiert.

INTERVIEW: HUBERT GIGLER