Die Szene zu Beginn des Abschlusstrainings der Brasilianer entbehrte nicht einer gewissen Komik. „Neymar, Neymar!“, hallte die Solostimme eines Buben durch die Weite des leeren Happel-Stadions. Der junge Fan hatte die Absperrungen ausgetrickst und wurde sogleich von einigen Sicherheitskräften verfolgt. Es kann doch nicht sein, was nicht sein darf. Das dachten sich die Menschen wohl auch, als sie von ihrer Mannschaft bei der Heim-Weltmeisterschaft so schmählich im Stich gelassen worden waren. Doch seither ist einiges passiert, und die Umstellung in der brasilianischen Fußball-Atmosphäre ist in vollem Gang. Das interne Match am Ende der Übungseinheit war jedenfalls eine Demonstration der reinen Spielfreude von Neymar und Kollegen.

„Bei null begonnen“

Um den Stürmerstar herum baut Teamchef Carlos Dunga eine neue Mannschaft auf, und der Trainer legt großen Wert auf die „Erneuerung“, wie er selbst sagt. „Wir haben bei null begonnen und da braucht man auch neue Führungspersönlichkeiten“, erklärte Dunga die Ernennung von Neymar zum neuen Kapitän der Selecao. Diese Personalie führte zu kurzzeitiger Aufregung, weil sich Thiago Silva über seine Absetzung beschwert haben soll. Sowohl Neymar als auch Dunga und Thiago Silva waren um Beruhigung bemüht. Thiago sei falsch interpretiert worden.

Die zweifelhafte Glaubwürdigkeit so mancher Nachricht lässt sich auch an Neymar selbst verfolgen. Denn auf einmal war verbreitet worden, der Star sei fraglich für das Spiel wegen angeblicher Magen-Darm-Probleme. Dies stellte sich am Ende aber offenbar als Latrinengerücht heraus, denn von Übelkeit hatte sich der Stürmer gestern auf dem Platz klar distanziert.

Jugend-Trip

Neymar ist also jetzt mit seinen erst 22 Jahren auch nominell der Chef einer Mannschaft, die durch ein extrem jugendliches Antlitz tatsächlich einen Neubeginn signalisiert. „Wir haben eine Reise begonnen“, sagt Dunga, „und mit jungen Spielern erlebst du wieder eine ganz neue Motivation.“ Wer könnte dies besser verkörpern als der Ausnahmefußballer, der noch dazu das Glück hatte, am vorübergehenden Untergang Brasiliens wegen Verletzung nicht beteiligt gewesen zu sein? Die Karriere Neymars währt schon einige Jahre, befindet sich aber ob der Jugend des mit Abstand populärsten brasilianischen Fußballers noch immer im Frühstadium. In bereits 59 Länderspielen hat Neymar schon 44 Tore erzielt und 24 Treffer aufgelegt. Nur noch die Größten der Vergangenheit liegen vor ihm, nämlich Zico (52), Romario (55), Ronaldo (62) und Pele (77 Tore).

Pele ist es auch selbst, der Neymar als seinen legitimen Nachfolger betrachtet. Er habe alles, was ein perfekter Fußballer brauche, sagte der 74-Jährige kürzlich über den brasilianischen Hoffnungsträger, der nach Anlaufschwierigkeiten inzwischen auch beim FC Barcelona angekommen ist, und dort mit Lionel Messi schon Schritt hält. In dieser Saison hat Neymar derzeit um ein Tor mehr auf dem Konto als der Argentinier. In der Nationalmannschaft ist Neymar der Kopf des neuen Gesichts Brasiliens, das sich heute im Happel-Stadion identisch mit dem Team gegen die Türkei präsentiert. Dunga kündigte an, mit der gleichen Aufstellung wie beim 4:0 zu beginnen. Er sieht keinen Grund für große Geheimnisse, und vermittelt damit Selbstbewusstsein. Er nimmt sein junges Team in die Verantwortung. „Sie sind Profis und sie sind Männer“, sagt er. Österreichs Nationalteam habe er im Spiel gegen Russland als „sehr kompakte Mannschaft“ gesehen. „Wir müssen gut vorbereitet sein und dürfen uns nichts erlauben“, so Dunga. Zumindest ein Akt der Höflichkeit.

HUBERT GIGLER