Fußball-Österreich schwebt auf einer Welle der Euphorie. Kann sich das Land Österreich daran aufrichten und ein Beispiel nehmen? Früher war es umgekehrt, das Land besser als sein Team, das hat sich gedreht.
LEO WINDTNER: Ja. Sportlich ist der Hype um unser Team die Riesenchance, über den Fußball hinaus. Was uns an professioneller Umsetzung gelungen ist, kann für vieles andere, bis hinein in die Wirtschaft, Rollenmodell sein. Der heimische Fußball kann in der brennenden Zuwandererfrage noch bedeutsamer werden. Unsere Vereine werden viel Zulauf kriegen, ich hoffe darauf. Fußball ist ein Mannschaftssport, da ist enormes Potenzial zur Einbindung junger Zuwanderer drinnen.

Das Team gewinnt mit nichtösterreichischen Tugenden.
WINDTNER: Unsere Kerntugenden sind klar: ein Konzept, das konsequent verfolgt wird. Sich nicht vorzeitig mit etwas zufriedengeben. Und vor allem die Zielsetzungen ständig evaluieren und gegebenenfalls neu definieren. Wie im Fußball muss auch in Österreich kein Einzelspieler, sondern die Mannschaft der Star sein. Das gilt auch für die Politik.

Dieses Kollektiv, das sich blind versteht, ist die Regierung sicher nicht.
WINDTNER: Ich mag nicht zu viel politisieren. Aber wenn man zwei Tage über einen gemeinsamen Begriff oder eine andere Definition für das Wort ,Zaun‘ öffentlich streitet, ist das natürlich symptomatisch. Dabei ist es wie im Sport. Du brauchst sehr gute Einzelspieler. Meistens sind die besten Individualisten jedoch die schwierigsten Charaktere. Daher brauchst du einen Betreuerstab mit einem Chef, der es versteht, die Stärken vieler in ein Kollektiv zu binden und auch klare Regeln vorzugeben. Alle müssen eines wissen: Wo geht es hin?

Wenn eine Regierung zwei Trainer hat, die sich darüber nicht einig sind, ist es schwer.
WINDTNER: Das mag so sein. Bei uns im Team gibt es dank Marcel Koller diese klare Orientierung. Jetzt dürfen wir diesen Hype nicht als Einmalerfolg genießen. Erfolg ist der größte Verführer. Jetzt heißt es dranbleiben, uns konsequent auf die Euro vorbereiten und nicht voreilig in Viertelfinal- oder sonstigen Zielen verheddern. Wir wollen in Frankreich jenen Eindruck bestätigen, den Europa vom österreichischen Fußball zuletzt gewinnen konnte. Aber definitiv untermauert wäre der Erfolg der Arbeit der letzten Jahre erst, wenn wir uns für die Weltmeisterschaft in Russland 2018 qualifizieren. Dann würde sich die Aufbauarbeit in den Klubs, kombiniert mit unserer gezielten Talenteförderung, erst richtig rentieren.

Das Rückgrat des Nationalteams bilden doch Spieler, die im Ausland engagiert sind. Ist bei 90 Prozent Legionären noch eine „österreichische Handschrift“ erkennbar?
WINDTNER: Mit der neuen Ausbildung in den Landesverbandszentren für die 10- bis 14-Jährigen, mit den infrastrukturell aufgewerteten und professionellen Fußballakademien, haben wir im letzten Jahrzehnt die Basis gelegt. Auch die österreichischen Klubs haben ebenso wie die Landesverbände tolle Arbeit geleistet. Es gibt nur ganz wenige Teamspieler, die diesen „österreichischen Weg“ nicht durchlaufen haben. Viele sind bald, manche zu bald, ins Ausland transferiert worden. Bei Alaba ist es gut gegangen, bei anderen nicht. Dass wir mit unseren Möglichkeiten die Spieler in der heimischen Liga nicht halten können, liegt auf der Hand. Geldfluss bestimmt den Spielerfluss. Wenn der Letzte der englischen Premier League mehr Fernsehgeld erhält als Bayern München, sieht man, wie die Relationen aus dem Ruder laufen.

Wie hoch ist der Anteil des Faktors „Marcel Koller“?
WINDTNER: Ihm ist es gelungen, die Spieler bei der Emotion und bei der Ratio zu packen. Daraus ist eine Dynamik entstanden. Ziele werden klar verfolgt, ohne jede Spur von Überheblichkeit. Der neue Mindset ist auch daran erkennbar, mit welcher Freude die Spieler zum Team kommen.

Sie mussten Marcel Koller gegen Widerstände holen. Heute wird er quasi heiliggesprochen. Empfinden Sie Genugtuung?
WINDTNER: Das wäre der falsche Begriff. Ich bin vor Kurzem auf Zeitungsberichte von damals gestoßen, die muten heute schon einigermaßen fremd an. Es war damals eine couragierte Entscheidung.

Er ist zuvor arbeitslos gewesen. Wie konnten Sie sich sicher sein?
WINDTNER: Das kann man bei Personalentscheidungen nie sein. Aber ich war mir aufgrund vieler Gespräche und der Erkundigungen bei meinen deutschen Freunden Franz Beckenbauer, Wolfgang Niersbach, Matthias Sammer sicher, dass er imstande ist, in kleinen Strukturen gute Arbeit zu leisten. Seine Arbeitslosigkeit war ein großes Kontra-Argument, das wurde heftig gegen ihn verwendet.

Wie lange kann er gehalten werden?
WINDTNER: Auf jeden Fall bis Ende Juli 2016.

Priorität eins ist, ihn über die Euro hinaus zu halten.
WINDTNER: Natürlich werden wir alles dafür tun. Nur muss uns bewusst sein: Kollers Marktwert und sein Bekanntheitsgrad haben sich immens gesteigert.

Wie kann man ihn halten? Welche Rolle spielen weiche Faktoren?
WINDTNER: Dass diese ,soft facts‘ nicht unwichtig sind, würde ich schon meinen. Sie werden aber letztlich nicht ausschlaggebend sein können. Wenn ein Klub oder ein Nationalverband kommt, der absolute Top-Summen bietet, dann wird es schwierig sein. Es gilt dazu aber mein Standardsatz. Die österreichischen Fußballfans werden noch vor der Euro wissen, wer nach der Euro Teamchef sein wird.

Die Euro-Teilnahme wird viel Geld sprudeln lassen, auch für die Spieler. Wie viel Freiheit haben die Spieler selbst, werblich aktiv zu sein?
WINDTNER: Es gibt klare Vereinbarungen mit den Spielern, wie sie sich gegenüber unseren Sponsoren und Partnern zu verhalten haben – und dass sie insbesondere als Teamspieler die Sponsoren des ÖFB in keiner Weise mit Eigenwerbung konkurrierender Marken konfrontieren dürfen. Das geht nicht.


Das heißt, ein Fall Anna Fenninger kann dem ÖFB nicht passieren.
WINDTNER: Nur, wenn sich einer narrisch machen lassen würde. Aber ich gehe davon aus, dass wir das im Griff haben.

Gibt es mit den Spielern schon Gespräche oder eine Einigung über die Euro-Prämien?
WINDTNER: Wir können darüber erst verhandeln, wenn wir tatsächlich wissen, was wir an Ausschüttungen als Verband erhalten werden.

Aber Geld rinnt doch jetzt reichlich in die Kasse. Wie vermögend ist der Verband?
WINDTNER: Wir sind fast jedes Länderspiel ausverkauft, das ist sensationell. Das merkt man auch in der Kasse. Das ist der Hype, den wir vielleicht auch noch an anderen Fronten nutzen können. Wir müssen dieses Geld auch wieder an der Basis investieren, viele Landesverbände schnaufen, weil wir die Standards für unseren ,österreichischen Weg‘ ständig hinaufgesetzt haben. Es gibt in Europa zwei kleinere Nationen, Belgien und Österreich, die durch diese forcierte Ausbildungsschiene auch wirklich etwas weitergebracht haben. Jetzt müssen wir weiter daran schrauben, diesen Level zu erhalten oder sogar noch zu verbessern. Das kostet natürlich Geld.

2016 soll der Verband eine neue Struktur kriegen?
WINDTNER: Ja, das Nationalteam, die U21, diverse Bewerbe, die wirtschafts- und steuerrechtlichen Belange sowie die Sponsoringaktivitäten werden in einer eigenen Kapitalgesellschaft, einer Wirtschafts-GmbH, gebündelt. Der Hoheitsbereich mit Frauen- und Nachwuchs-Nationalteams bleibt in der Vereinsstruktur. Das muss bis 1. Jänner 2017 umgesetzt sein, wir wollen den Probebetrieb mit 1. Juli 2016 beginnen. Damit stellen wir uns komplett neu auf.

Sie wollen ein neues Stadion.
WINDTNER: Wir müssen nüchtern realisieren, dass uns nach der Euro 2008 nur das Salzburger Stadion und die Wörthersee-Arena in Klagenfurt, sofern im Vollausbau nutzbar, punkto Infrastruktur einen Schritt nach vorne gebracht haben. Wenn Ungarn am Platz des alten Nep-Stadions eine Ferenc-Puskas-Arena mit 70.000 Personen Fassungsvermögen errichtet, dann muss man schon feststellen, dass das Happel-Stadion im Vergleich eine ehrwürdige alte Dame mit vielen kosmetischen Operationen ist. Aber es ist trotz dieser Kosmetik eine alte Dame geblieben. Wir sind infrastrukturell komplett out, weil wir auch keine Chance haben, uns für ein Endspiel der Europa League zu bewerben. Die Euro 2020 geht dadurch auch an Österreich vorbei, obwohl wir als Ausrichterland einen hervorragenden Ruf genießen.

Wird mit der Regierung darüber bereits verhandelt?
WINDTNER: Wir wollen keinen Druck entwickeln, aber das Bewusstsein schaffen, dass hier echt Bedarf ist. Wir hören die Signale aus dem Sportministerium, dass man grundsätzlich Verständnis dafür hat. Ein Nationalstadion am Standort des jetzigen Happel-Stadions ist die optimale Variante.

Der europäische und der weltweite Fußball stecken moralisch, ethisch in einer großen Krise, wir brauchen nur die Namen Blatter, Platini und jetzt Niersbach zu nennen. Der Sport und seine Funktionäre, das sind in vielen Sparten Parallelwelten, denken wir an die Formel 1 oder auch Olympia.
WINDTNER: Vorweg gilt für diese Namen die Unschuldsvermutung. Aber natürlich will man als korrekter Funktionär nicht mit Vorgängen identifiziert werden, wie sie derzeit angeprangert werden. Es wird daher zwingend notwendig sein, alle diese Themen restlos aufzuklären und für Transparenz zu sorgen. Die Fans registrieren diese Berichte zwar, aber für sie überwiegt, was sich im Stadion abspielt.

Wurde in der FIFA und der UEFA die Kommerzialisierung übertrieben? Die Funktionskaste hat sich von der Basis entkoppelt, weil zu viel Geld im Spiel ist.
WINDTNER: Das ist auch meine Meinung. Die englische Premier League beispielsweise betreibt totale Kommerzialisierung, da wird geradezu penetriert und von Freitag bis Montag 22 Uhr durchgespielt, aufgehängt an Pay-TV. Liverpool spielt drei Wochen in China, weil auch dieser Markt nicht übersehen werden soll. Das Ganze darf nicht pervertieren, wenn nur mehr wirtschaftliche Ziele Priorität haben und die Fans zurückbleiben, an denen das ganze System hängt.

Es gibt viele Auswüchse. Zu hohe Kartenpreise, zu hohe Gehälter, zu hohe Transfersummen.
WINDTNER: Ja. Das betrifft insbesondere die Champions League. Wenn vielleicht in Zukunft nur mehr Engländer die Titel unter sich ausmachen, wird das Interesse sinken. Diese Gefahr ist gegeben. Betreffend die Kartenpreise fährt der ÖFB eine eher defensive Linie, weil Fußball für den Fan leistbar bleiben muss. Wir haben jetzt auch für das Spiel gegen die Schweiz die Kartenpreise im Vergleich zu den Quali-Spielen gesenkt, als Dankeschön an unsere Fans.


Wie lässt sich das Paralleluniversum FIFA, UEFA, dieser Klub der alten Männer, reformieren?
WINDTNER: Wir brauchen ordentliche gesellschaftsrechtliche Strukturen in diesen Verbänden, mit aller Transparenz, mit allen Kontrollmechanismen.

Derzeit prüft das jeweilige Herkunftsland die Integrität seiner Funktionäre, die entsandt werden. Die dabei angelegten Maßstäbe sind unterschiedlich.
WINDTNER: Leider. Das muss künftig nach klaren westeuropäischen Maßstäben erfolgen. Es werden ja immer die FIFA oder die UEFA, bei der diese Leute agieren, gemessen und nicht das Herkunftsland.

Ist es nicht Illusion, europäische Maßstäbe zu fordern, und voraussichtlich wird der Nachfolger Blatters nicht aus Europa, sondern aus Südafrika kommen?
WINDTNER: Das spielt keine Rolle, jeder neue FIFA-Präsident muss das Interesse haben, die Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen. Dieses Vertrauen braucht die FIFA, um den Weltfußball wirkungsvoll vertreten zu können.

Europa, der Mutterkontinent des Fußballs, wird in der FIFA trotzdem seine Vormacht verlieren. Danach sieht es aus.
WINDTNER: Natürlich geht ein Hebel verloren, wenn du das Präsidentenamt abgibst. Wichtig wird sein, dass die europäischen Vertreter im FIFA-Komitee wirklich handverlesen sind und die Interessen des Fußballs und Europas dort vertreten. Das war mit den bisherigen Vertretern nicht hinreichend gegeben.

Auch dabei bestimmen die Geldinteressen.
WINDTNER: Ja. Wenn es so weitergeht, werden Olympische Spiele und Fußball-Großereignisse nur mehr in totalitären Staaten stattfinden können. Da muss man rechtzeitig munter werden und sich fragen, ob diese Entwicklung zwingend ist. Es ist unverständlich, dass man mit einem Fußball-Großereignis nicht wieder mehr in Länder, wie zum Beispiel England, geht. Es entwickelt sich jedenfalls eine Sehnsucht nach normalen Verhältnissen, bei denen der Sport das Zentrale ist.

Eine Art Läuterung?
WINDTNER: Ja.

Die Fußball-WM zur Weihnachtszeit in Katar bleibt uns nicht erspart?
WINDTNER: Russland ist gelaufen. Bei Katar kann ich mir eine Gefährdung nur vorstellen, wenn tatsächlich kriminelle Tatbestände bei der Vergabe noch auftauchen sollten. Dann wäre es noch zu heben.

Das Interview mit Leo Windtner wurde von den Chefredakteuren der Bundesländerzeitungen und der „Presse“ geführt. Für die Kleine Zeitung nahm Hubert Patterer daran teil.