Der Schweizer Joseph Blatter will bleiben und verkauft Festnahmen seiner engsten Mitarbeiter und Ermittlungen in seiner Zentrale sogar als Erfolg. Das Prinzip hat seit Jahren System.

Auf der Zielgeraden eines eigentlich schon gewonnenen Präsidentschaftswahlkampfes sind die bösen Geister der Vergangenheit für Blatter am Mittwoch plötzlich wieder böse Geister der Gegenwart. Mit dem ihm eigenen, unglaublichen Selbsterhaltungstrieb will der maximal skandalerprobte FIFA-Präsident aber auch die massiven juristischen Vorwürfe gegen mehrere Mitglieder seines inneren Machtzirkels aussitzen und am Freitag wie geplant seine fünfte Amtszeit als FIFA-Boss antreten. Rücktrittsgedanken ließ der 79-Jährige von seinem Mediendirektor Walter de Gregorio zurückweisen.

Tag wird als Erfolg verkauft

Rücktritt? Warum? Zwei FIFA-Vizepräsidenten verhaftet, Ermittlungen gegen ein Dutzend weitere Funktionäre aus dem Weltverband oder zumindest aus dessen Dunstkreis sowie Sportgeschäftsleute - und dann noch die Schweizer Staatsanwaltschaft in den heiligen Hallen der FIFA-Zentrale auf dem Zürichberg, um Unterlagen über die dubiosen WM-Vergaben an Russland 2018 und Katar 2022 zu beschlagnahmen. Im System Blatter wird sogar solch ein Tag als Erfolg verkauft. Als Erfolg für den Fußball und als Beleg für den Aufklärungswillen des FIFA-Chefs. "Es ist gut, was heute passiert ist. Es tut weh, aber wir werden den Weg weiter gehen", sagte De Gregorio.

Mit dieser Offensivstrategie hat Blatter bisher alle Skandale seit 1998 ignoriert, ausgesessen oder clever umschifft. Im Zweifelsfall wurde der Sturz von Gegnern oder auch ehemaligen Wegbegleitern zumindest billigend in Kauf genommen. Und seine ärgsten Kritiker müssen befürchten, dass der Mann aus dem Kanton Wallis, der sich kürzlich selbst die Zähigkeit einer Schweizer Bergziege bescheinigte, mit den gleichen Tricks und Argumenten davon kommt: Schuld sind immer andere, nie die FIFA und schon gar nicht ihr Präsident.

Blatter "tanze nicht vor Freude in seinem Büro", versuchte de Gregorio einen Scherz. Aber: "Es geht ihm gut." Noch am Dienstag hatte Blatter einen äußerst fröhlichen Eindruck hinterlassen. Wartenden Journalisten raunte er auf dem Weg zu den regionalen Treffen seines internationalen Wahlvolkes kurze Sätze zu, die Siegesgewissheit ausstrahlen und den Eindruck festigen, dass der FIFA-Präsident kurz vor seiner allseits erwarteten fünften Amtszeit wenig Zeit und Lust hat, sich selbst erklären zu müssen.

"Sie kennen mich, ich bin immer optimistisch", hat Blatter gerade noch sagen können. Und schon ist der 79-Jährige halb gefolgt und halb gedrängt von einem halben Dutzend dunkler Anzugträger seiner FIFA-Entourage wieder in einem Aufzug oder Seitengang verschwunden.

Viel sagen musste Blatter in diesem skurrilen Wahlkampf um den Präsidentenjob im Fußball-Weltverband - in dem sich seine Gegner fürchterlich mühten und doch nicht voran kamen - ohnehin nicht. Während sich seine diversen schon gescheiterten und auch der einzig verbliebene Kontrahent Prinz Ali bin al-Hussein mit diversen Hochglanzbroschüren zum FIFA-Wandel und professionellen Portfolios im Internet profilieren wollten, schickte Blatter einfach einen DIN-A-4-Seite langen Brief an alle 209 FIFA-Mitglieder. Unter der simplen Überschrift "Together" verwies er darauf, dass doch alles bleiben solle, wie es ist - Hauptsache, man halte in der Fußball-Familie ganz brav zusammen.

Das müssen die FIFA-Funktionäre nun auch wieder, sonst könnte es tatsächlich ungemütlich werden für Blatter. Seit 40 Jahren arbeitet er für die FIFA. Seine Zeit als Präsident ist begleitet von ständigen Verdächtigungen um Korruption und Vorteilsnahme. Schon bei der ersten Wahl im Juni 1998 sollen Umschläge mit Schmiergeld den Besitzer gewechselt haben. Auch die Spätfolgen der Pleite von Ex-FIFA-Vermarkter ISL mit der belegten Bestechung von Ex-Präsident Joao Havelange überstand er mit lediglich leichten symbolischen Kratzern. Kulminiert sind die Ereignisse um die WM-Vergabe an Russland und Katar - die einen Demokratisierungsprozess einleiteten.

Wer das System Blatter verstehen will, muss die europäische Brille abnehmen. Denn das Wahlvolk von Guinea bis Guam bekam wieder genau das, womit Blatter immer prahlen konnte. Eine gute Portion materielle Sicherheit für den Fußballbetrieb daheim und das Gefühl, am schillernden Milliardenspektakel Weltfußball gleichberechtigt beteiligt zu sein. Wer eventuell doch aufmucken wollte, wurde diesmal nicht direkt, aber subtil daran erinnert, dass erst am Tag nach der Wahl über die Quoten der WM-Startplätze entschieden wird.

Ein Funktionär aus Curacao brachte das Blatter-Prinzip auf den Punkt: Prinz Ali sei höflich und korrekt. Gewählt werde aber Blatter. Warum? "Wenn der Chef es sagt, dann ist es so richtig", erklärte Mann aus der Karibik, lachte laut und stieg in den Bus, der die Delegierten aus Nord- und Mittelamerika zum Abendprogramm in Zürich fuhr.

Doch warum hängt Blatter so an der Macht? Michel Platini kennt den FIFA-Chef so gut, dass er dessen Seelenleben analysieren kann. Der Franzose, der seinen langjährigen Funktionärs-Ziehvater aus dem Amt drängen wollte, es aber nicht wagte, selbst gegen ihn anzutreten, hat erkannt, dass es für Blatter nicht mehr um Inhalte oder Missionen geht, sondern nur noch um Machterhalt zum Selbstzweck.

Nach 40 Jahren im Weltverband und 17 davon als Chef ist Blatter mit der FIFA quasi verschmolzen. "Er hat sein Leben an die Institution gegeben, bis zu dem Punkt, an dem er sich komplett mit der FIFA identifiziert", sagte Platini. Freiwilliges Aufhören ist somit auch im Pensionsalter unmöglich geworden.

Wie ein alternder Herrscher ohne Anbindung an die Realität marschiert Blatter durch sein FIFA-Reich - eine ihm gefährliche Opposition war bisher nicht auszumachen, da ihm - so groß der Aufschrei in Ländern wie England oder Deutschland auch sein mag - die große Mehrheit seines Fußball-Volkes weiter dankbar folgt. Ob die neuen Skandale das ändern können, bleibt abzuwarten.