Noch nie hat ein Artikel oder ein Foto so viele Anzeigen beim Presserat hervorgerufen wie die Publikation des Bildes von den erstickten Flüchtlingen im ungarischen Schlepper-LKW durch die Kronenzeitung. Unser Leitartikel in der Sonntagsausgabe, der eine dezidiert andere Ansicht vertritt, hat zahlreiche Reaktionen ausgelöst. Deshalb gehen wir von unserer Politik ab, Leitartikel nicht ins Netz zu stellen. Schreiben Sie uns, welche Bilder für Sie zumutbar sind und welche nicht.  Die Redaktion

Eine Aufregung geht durch das Land. Es geht um ein Foto. Eine Zeitung druckte, was man sieht, wenn die Türe mit dem netten Hühnerbild weggeklappt wird und der Inhalt des Lastwagens sichtbar wird: 71 Leichen. In mehreren Schichten liegen die Leiber übereinander. Kein Blut ist zu sehen, die Körper sind scheinbar intakt. Kein Wort vermag das Grauen in dem hermetisch abgedichteten Auto besser zu verdeutlichen, den Todeskampf, die Panik.

Dutzende Anzeigen gingen beim Presserat ein, die besten der Zunft wittern Skandal und schütteln die Köpfe. Und trotzdem, mir fällt es schwer, diesen Skandal zu erkennen.

Es ist in unserer Branche üblich, Tote nicht zu zeigen. Einmal hatte unsere Zeitung übersehen, dass der Turnschuh eines verunglückten Motorradfahrers unter dem Abdecktuch hervorsah. Da war der Teufel los. Unsere Leserinnen und Leser, ja vermutlich alle Menschen im Land reagieren empfindlich, wenn der Tod ins Bild kommt.

Das ist verständlich. Zeitungen liegen überall herum, nicht jeder, dem sie in die Hände fallen, ist gewappnet, die drastische Wirklichkeit zu sehen. Wir halten uns daran. Aber ist es tatsächlich richtig, die Realität von Krieg, die Folgen von Flucht und Schlepperwesen nur zu beschreiben? Sensationsgier und Geschäftemacherei treibe Zeitungen, die so etwas publizieren, ist der Einwand. Das mag stimmen. Die aufrüttelnde Wirkung des Fotos mindert der Einwand nicht.

Auch die Würde der Toten wird gerne ins Treffen geführt. Fotos von Flüchtlingen, die sich Hals über Kopf durch das Fenster in ein Zugabteil zwängen, tastet deren Würde nicht an? Sorgen wir uns wirklich um die posthume Würde der Ermordeten oder vielmehr um unseren Nachtschlaf?

Zur Selbstprüfung habe ich das Buch „L’Enfer“, die Hölle, von James Nachtwey aus dem Regal geholt. Der vielleicht bedeutendste Kriegsfotograf der Welt hat in dem in edlem Schwarz-Weiß gehaltenen Band das ganze Elend des Planeten abgebildet. Gerippe, die sich mit letzter Kraft durch Wüstensand schleppen, verschrumpelte Leichen Verhungerter auf ausgedörrten Landstrichen, Verstümmelte des Gemetzels in Ruanda. Tote über Tote, ohne jede Selbstzensur. Es ist ein schreckliches Buch, die schauerliche Dokumentation der Nachtseite der Menschheit. Der Fotoband macht einen Skandal sichtbar – aber seine Publikation ist keiner.

Meine Vermutung ist, wir wollen der Schattenseite unserer Natur nicht ins Gesicht sehen. Das ist verständlich, aber noch keine moralische Großtat.

Widerspruch ist willkommen.