Bei der heutigen Parlementswahl in Großbritannien geht es in erster Linie um die wachsenden sozialen Spannungen im Lande. Aber es geht auch um die Frage, ob die schottischen Nationalisten das Zünglein an der Waage sein werden.

Wenn die Briten heute zur Wahl gehen, dann hält ganz Europa den Atem an. Denn der Urnengang könnte weitreichende Folgen für das Verhältnis Großbritanniens zur EU haben.

Knappes Rennen vorausgesagt

Die letzten Umfragen vor der Parlamentswahl in Großbritannien lassen weiterhin ein sehr knappes Rennen zwischen den regierenden Tories von Premierminister David Cameron und der oppositionellen Labour-Partei von Ed Miliband erwarten. Die am Mittwochabend veröffentlichten Umfragen der Institute YouGov, ICM und Survation sahen die beiden Parteien gleichauf mit jeweils 34, 35 oder 31,4 Prozent.

In den Umfragen von TNS, Opinium und Comres lagen Camerons Konservative ein Prozentpunkt vor Labour: TNS ermittelte einen Stand von 33 zu 32 Prozent und Opinium sowie Comres von 35 zu 34 Prozent. In einer Umfrage von Panelbase lag Labour hingegen mit 33 Prozent vor den Tories mit 31 Prozent.

Die letzten Umfragen, die vor dem Urnengang veröffentlicht werden durften, zeigten, "dass Labour und die Konservativen Gleichstand erreicht haben", erklärte die Chefin für Politik und Soziales beim Institut TNS, Michelle Harrison. "Wir erleben ein Großbritannien in einem politischen Fluss und nach einem langweiligen Wahlkampf beginnt das eigentliche Drama am Freitag."

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Der konservative Amtsinhaber David Cameron hat bei einer Wiederwahl für 2017 eine Volksabstimmung über den Verbleib in der Union versprochen - und will vorher die Bedingungen für die britische Mitgliedschaft von Grund auf neu aushandeln. Der "Brexit" - der Austritt Großbritanniens aus der EU - gilt seitdem als denkbares Szenario.

Die traditionell europakritischen Briten haben sich in den vergangenen Jahrzehnten schon eine Vielzahl von Ausnahmen von der EU-Gesetzgebung erkämpft. Die resolute Premierministerin Margaret Thatcher setzte mit ihrer Forderung "I want my money back!" ("Ich will mein Geld zurück") 1984 einen kräftigen Rabatt bei den Beitragszahlungen an Europa durch. Auch bei Reisefreiheit, der Zusammenarbeit im Innen- und Justizbereich und bei der Budgetüberwachung hat sich London Sonderregelungen ausgebeten.

In den vergangenen Jahren hat die EU-Skepsis auf der Insel nochmals zugenommen. Im Mai 2014 wurde die EU-feindliche UK Independence Party (UKIP) bei den Europawahlen stärkste Kraft. "Die britische Wahrnehmung ist, dass die EU von Deutschen und Franzosen zu ihren Gunsten und gegen unsere Interessen gelenkt wird", sagt Charles Grant vom Londoner Centre for European Reform (CER). Und UKIP sei es gelungen, dass Einwanderung heute mit Europa gleichgesetzt werde und zum "wichtigsten Problem der britischen Politik" geworden sei.

Cameron ist schon seit Monaten im Wahlkampfmodus wenn er nach Brüssel kommt. Im Oktober hielt er eine "Wutrede", als die Kommission von Großbritannien Nachzahlungen von 2,1 Milliarden Euro zum EU-Budget verlangte. Beim Sondergipfel nach der Flüchtlingstragödie im Mittelmeer kündigte er die Entsendung von drei Schiffen an, schloss aber im selben Atemzug aus, dass gerettete Flüchtlinge nach Großbritannien gebracht würden und dort Asyl beantragen könnten.

Im November kam es zu einem Schlagabtausch mit Deutschland, als Cameron ankündigte, auch die Zuwanderung von EU-Ausländern nach Großbritannien zu begrenzen. Einwanderer aus der EU sollten erst nach vier Jahren Anspruch auf bestimmte Sozialleistungen erhalten. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ließ daraufhin erklären, dass die Freizügigkeit für sie "so grundlegend" mit dem europäischen Gedanken verbunden sei, dass diese "im Grundsatz" nicht angetastet werden dürfe.

Merkel sei offenbar nicht bereit, Großbritannien "zu jedem Preis" in der EU zu halten, sagte Stefani Weiss von der Bertelsmann-Stiftung jüngst bei einer Diskussionsveranstaltung in Brüssel. Vorstellbar sei Unterstützung für eine neue Gesetzgebung, "die den Missbrauch von Leistungen durch EU-Einwanderer erschwert". Merkel werde sich aber kaum an die Seite Großbritanniens stellen, wenn es um eine grundlegende Neuverhandlung der EU-Verträge gehe.

Labour-Chef Ed Miliband schließt seinerseits ein Referendum bei einem Wahlsieg aus. Großbritanniens Zukunft liege "innerhalb und nicht außerhalb der Europäischen Union", sagt der Sozialdemokrat. "Wir werden dieses Land nicht zu jahrelanger Unsicherheit verurteilen, indem wir unsere europäische Zukunft bedrohen."

"Wer auch immer die Wahl gewinnt, es gibt gute Gründe, in der EU zu bleiben", sagt Gregory Claeys vom Brüsseler Bruegel-Institut unter anderem im Hinblick auf die wirtschaftlichen Vorteile für britische Unternehmen durch den Binnenmarkt. Es sei deshalb davon auszugehen, dass Cameron nach dem Wahlkampf "weniger lautstark mit Blick auf ein Verlassen Europas auftreten wird". Allerdings erwartet Claeys auch unter einem Premier Miliband kein Großbritannien, das sich plötzlich zum EU-Verfechter wandelt. "Es wird ein Unterschied sein, aber kein großer Kurswechsel."

Nicola Sturgeon
Nicola Sturgeon © AP

Auf Nicola Sturgeon, Chefin der schottischen Nationalpartei, könnte nach der britischen Wahl eine Schlüsselrolle zukommen. Mit ihr wurden Schottlands Nationalisten populärer.

Sie tritt bei den britischen Unterhauswahlen am heutigen Donnerstag selbst gar nicht an. Dennoch könnte Nicola Sturgeon, Chefin der Scottish National Party (SNP), zur Königsmacherin werden. Glaubt man den Umfragen, steuert ihre Partei auf einen Erdrutschsieg in Schottland zu. Sie könnte fast alle der 59 schottischen Sitze im Londoner Parlament erobern.

Der Siegeszug der SNP in Schottland ist die eigentliche Sensation dieses Wahlkampfs. Im Zuge des Unabhängigkeitsreferendums im letzten Jahr erfuhr die Partei einen beispiellosen Popularitätsschub. Jetzt hat man die Mitgliederzahl verfünffachen können. Bei der Werbung um Stimmen gab die SNP-Chefin klare Kante: Sie forderte ein Ende der Sparpolitik, mehr staatliche Investitionen, die Verbannung von Atomwaffen aus Schottland und sammelte Sympathien mit ihrem freundlich-unverblümten Auftreten.

Ob Sturgeons SNP als Juniorpartner in eine Regierung mit der Labour Party eintritt, ist allerdings offen.