"Wir brauchen die Wahrheit nicht zu fürchten." Kardinal Christoph Schönborn sprach sich Freitagabend beim Gedenkgottesdienst an die Opfer des armenischen Völkermordes vor hundert Jahren für "ein ehrliches Aufarbeiten der Geschichte" aus, um zu einer Versöhnung zu gelangen.

Die "größte Christenverfolgung der Geschichte"

Mit den Worten "Heute vor hundert Jahren begann eines der größten Dramen der Christenheit" eröffnete der Wiener Erzbischof seine Predigt im Stephansdom, der bis auf den letzten Platz gefüllt war. Was damals geschah, könne als "die größte Christenverfolgung der Geschichte" bezeichnet werden. Unter den Opfern der Tragödie, die 1915 begann, seien 1,5 Millionen Armenier, rund 500.000 Christen syrischer Tradition, 350.00 Pontus-Griechen und weitere Christen gewesen - insgesamt rund 2 Millionen Menschen. Sie wurden verfolgt, weil sie Christen waren, so Schönborn.

Der Kardinal erinnerte an Worte von Papst Franziskus, "dass der Genozid am armenischen Volk nie vergessen werden kann". Schönborn: "Wir dürfen nicht vergessen, aber wir müssen vergeben." Er erinnerte auch daran, dass heute wieder unzählige Christen wegen ihres Glaubens verfolgt werden. Die Schreckensbilder von der Ermordung der koptischen und äthiopischen Christen in Libyen vor wenigen Tagen, die Zeugnis für ihren Glauben ablegten, seien präsent. Auch die Ermordung christlicher Studenten in Kenia sei Beweis dafür, dass die Zahl der christlichen Märtyrer heute größer sei als in den Anfängen des Christentums.

"Habt keine Angst vor der Wahrheit", forderte Schönborn bei der Gedenkfeier auf. Nicht die Wahrheit, sondern die Verleugnung der Wahrheit führt nach den Worten des Wiener Erzbischofs zu neuen Konflikten. Ereignisse wie der Völkermord an den Armeniern und weiteren Christen im Osmanischen Reich ab 1915 dürften sich nicht mehr wiederholen. Hass und Revanche dürften freilich beim Gedenken keinen Platz haben. Auch dies sei eine Botschaft des Kreuzes.

Die ökumenische Vesper im Stephansdom wurde von Kardinal Schönborn gemeinsam mit dem armenisch-orthodoxen Patriarchaldelegaten, Pater Tiran Petrosyan, dem syrisch-orthodoxen Chorepiskopos Emanuel Aydin und dem griechisch-orthodoxen Bischofsvikar Ioannis Nikolitsis im Beisein hoher Vertreter der christlichen Gemeinschaften und zahlreicher Botschafter zelebriert. So waren die Botschafter Armeniens, Russlands, Griechenlands, Zyperns und Liechtensteins zugegen.

Fürbitten für Opfer

Unter den kirchlichen Würdenträgern waren der Apostolische Nuntius Erzbischof Stephan Peter Zurbriggen, der Vorsitzende des Ökumenischen Rates der Kirchen in Österreich, Superintendent Lothar Pöll, der evangelische Bischof Michael Bünker, der anglikanische Erzdiakon Patrick Curran, der altkatholische Bischof John Okoro, der koptische Bischof Gabriel und Vertreter der armenisch-katholischen Mechitaristen, der rumänisch-orthodoxen und der bulgarisch-orthodoxen Kirche.

Beim Gottesdienst wurden Fürbitten für die Opfer der Christenverfolgungen von Vertretern der Kirchengemeinschaften gelesen, von der armenisch-apostolischen, syrisch-orthodoxen, evangelischen, griechisch-orthodoxen, anglikanischen, römisch-katholischen und koptischen Kirche. Die Psalmen wurden vielsprachig vorgetragen, das Vaterunser beteten die Anwesenden gemeinsam, jeweils in ihrer Sprache.

Das Kreuz von Franz Werfel wurde während der Vesper in einer Vitrine vor dem Altarraum präsentiert. Es weise den Weg zur Versöhnung, sagte Schönborn in seiner Predigt. Der österreichische Schriftsteller hat mit seinem Roman "Die vierzig Tage des Musa Dagh" dem Armenier-Genozid ein literarisches Andenken gesetzt. Das Kreuz gab ihm der damalige armenisch-apostolische Patriarch von Jerusalem, Yegishe Tourian, in Anerkennung seines Werks. Werfel trug das Kreuz immer bei sich, auch als er 1938 vor den Nazis flüchtete. Es gelangte über Werfels Frau Alma in den Besitz von Erich Rietenauer, einem Kindheitsfreund der Familie Mahler-Werfel, der es vor einigen Jahren an den Kardinal übergab.

(Schluss) hs/ed/sm