Im Sommer hat Faymann Ihnen vorgehalten, für Ihre Positionen erhielten Sie am Parteitag nicht einmal 10 Stimmen. Jetzt hat Faymann 95 Streichungen bekommen. Erfüllt Sie das mit Genugtuung?


HANNES ANDROSCH: Seine damaligen Äußerungen waren schon ein Zeichen von Nervosität. Das Ergebnis am Parteitag hat bestätigt, dass die Nervosität berechtigt war. Dass meine Überlegungen nicht in das taktische Bemühen hineinpassen, verstehe ich schon.


Für jene, die Faymann einen Denkzettel verpasst haben, dürfte wohl Hollande das große Vorbild sein und nicht Androsch?

ANDROSCH: Die Hollandisierung Österreichs wäre die totale Katastrophe. Um die Hollandisierung zu vermeiden, braucht man Wirtschaftskompetenz. Dass man Wirtschaftskompetenz haben kann, haben die Parteifreunde in Schweden, der Schweiz und Schröder bewiesen.

Was läuft schief in der SPÖ?

ANDROSCH: Es fehlt an zukunftsorientierten Visionen und Konzepten. Es mangelt an Gestaltungsinhalten und Gestaltungswillen. Das ist unbefriedigend. Man klammert sich taktisch an Einzelpunkten fest, nur ergibt es kein Gesamtkonzept. Was ist mit der Bildung? Wo ist eine realistische Antwort auf das Pensionsthema? Wie geht es in Europa weiter? Wir stehen angeblich vor einem neuen Kalten Krieg. Die Leute wollen eine Orientierung. Da muss man schauen, wie man mit dem Koalitionspartner zusammenkommt.

Ist Faymanns Problem nicht der Kuschelkurs mit den Gewerkschaften, nicht jener mit der ÖVP?

ANDROSCH: Dass die exorbitante Progression einer Korrektur bedarf, ist unbestritten. Unsere Steuerbelastung ist eine der höchsten der Welt, wir machen aber mehr Schulden als andere und kommen dennoch mit dem Geld nicht aus. Wir kürzen die Bildung, geben den Universitäten zu wenig, ruinieren unser Heer. Da kann man nicht einen Strohhalm herausziehen und glauben, sich damit zu retten.

Sie meinen die Millionärssteuer, auf die man sich quasi-religiös fokussiert?

ANDROSCH: Die Millionärssteuer ist ein Ablenkungsmanöver, das fiskalisch nichts bringt und keine der angeschnittenen Herausforderungen löst. Die Millionärssteuer ist nicht der Zopf, mit dem sich ein Münchhausen herauszieht. Um ein anderes Bild zu verwenden: Für einen Cappuccino braucht es eine Menge Kaffee, Milchschaum und, damit es besser ausschaut, noch Zimt drauf. Wenn man nur Zimt ins Häferl streut, ergibt das keinen Cappuccino.

Sind Sie gegen die Millionärssteuer, weil Sie selbst Millionär sind?

ANDROSCH: In einem Gesamtkonzept kann ich mir das schon vorstellen. Für sich allein ist sie eine Augenauswischerei. Bei uns hat sich die Arbeitslosigkeit seit der Krise verdoppelt, in Deutschland ist sie halbiert, in der Schweiz ist sie noch niedriger. Da stimmt vieles nicht. Man kann nicht so tun, als ob einen das alles nichts angeht.

Ihre Kritik zielt direkt auf den Bundeskanzler ab?

ANDROSCH: Natürlich neigen die Leute zur Bequemlichkeit, aber sie erwarten sich von ihren Leithammeln Antworten. Da muss man sich mit dem Koalitionspartner auf einige Sachen einigen, und nicht nur Schifferlversenken spielen. Dass das anders geht, beweist ja die Steiermark.

Stellt sich nicht die Frage, ob die Sozialdemokratie ausgedient hat?

ANDROSCH: Nach dem Ende des Kalten Krieges haben sich viele gefragt: What’s left? „Left“ in der doppelsinnigen Bedeutung „links“ bzw. „übrig bleiben“. Der aus einer Hamburger sozialdemokratischen Familien stammende Ralf Dahrendorf hat den Standpunkt vertreten, dass die Sozialdemokratie mit der Schaffung des Wohlfahrtsstaates ihre Mission erfüllt hat. Ich habe ihm in einer TV-Diskussion widersprochen und gesagt, dass die Umsetzung von humanistischen Grundwerten eine nie Enden wollende Aufgabe darstellt. Die Werte müssen den sich ändernden Umständen angepasst werden.

Steckt die Sozialdemokratie dennoch nicht in einer Legitimationskrise?

ANDROSCH: Kreisky hat in der Opposition ein Wirtschaftsprogramm ausarbeiten lassen, das den Titel trug: Leistung – Aufstieg – Sicherheit, in dieser Reihenfolge. Heute sind die beiden ersten Begriffe in manchen Auseinandersetzungen zu Hochverratsvokabeln verkommen.

Die SPÖ versteht sich als Bewegung der Umverteilung?

ANDROSCH: Wir sind eines der Länder mit der höchsten Umverteilung, und dennoch gibt es massive Ungerechtigkeiten. Denken Sie an das Bildungssystem, an das Steuersystem mit den vielen Ausnahmen, an das Sozialsystem. Da gibt es ein sehr breites Betätigungsfeld.

Ist nicht das Problem, dass sich die SPÖ nur noch als Kanzler-Wahlverein versteht?

ANDROSCH: Zuerst muss man wissen, warum man den Kanzler stellen will. Wenn man ihn stellt, muss man wissen, was man erreichen will. Wenn es nur um den Machterhalt geht, ist es zu wenig.

Der jetzige SPÖ-Chef hat Angst vor unpopulären Entscheidungen?

ANDROSCH: Jeder Arzt muss seinem Patienten sagen, dass er leider krank ist, es aber eine Therapie gibt. Diese mag schmerzhaft sein, aber der Patient wird sie im eigenen Interesse mitmachen. Das ist die Kunst der Politik.

Mit einer Wohlfühlpolitik fährt man besser?

ANDROSCH: Das ist ein Trugschluss. Sonst hätten wir ja nicht die abnehmende Zustimmung und die geringer werdende Legitimation. 2006 hatte die SPÖ noch über 36 Prozent bei den Wahlen, jetzt dürften es nicht einmal 25 Prozent. Seit dem Kreisky-Erfolg 1979 haben wir eine Million Wähler verloren. Bei den unter 30-Jährigen haben wir nur noch 16 Prozent. Das kann dann bei den nächsten Wahlen heißen, dass die ÖVP wieder einmal vorne ist und die SPÖ auf Platz 3. Man wird schwer behaupten können, dass das eine erfolgreiche Strategie war.

Kreisky waren andere Zeiten.

ANDROSCH: Natürlich hat sich die Gesellschaft geändert, auch die ÖVP, der ÖGB, die katholische Kirche haben Mitglieder verloren. Vor 25 Jahren hatte kein Mensch ein Handy, jetzt gibt es um 40 Prozent mehr SIM-Karten als Einwohner. Wir haben keine Ganztagsschule, aber die islamischen Kinder gehen mittags in die islamische Schule, und dort wissen wir nicht, was passiert, da schauen wir weg. Das spüren die Leute.

Muss die Partei reformiert werden?

ANDROSCH: Wo ist denn der Magnetismus, der die Leute anzieht? Die Jugendorganisationen lässt man genauso im Eck stehen wie die Frauen. Man kümmert sich nicht um die Universitäten. Bei der Forschung sagt man, damit kann man eh keine Wahl gewinnen. Aber mit den anderen Themen offensichtlich noch weniger.

Sollte es eine Wachablöse geben?

ANDROSCH: Das sollen die entscheiden, die dazu berechtigt sind.

Wäre Christian Kern ein guter SPÖ-Chef?

ANDROSCH: Ich denke da viel langfristiger. Die wirkliche Frage lautet: Was haben wir für Inhalte? Ich wünsche mir schon lange mehr Inhalte. Vranitzky hat sich nie um die Partei gekümmert, Gusenbauer hat immerhin die Partei in die Regierung zurückgeführt. Faymann ist ja zuerst Kanzler geworden und dann erst Parteivorsitzender. Es war auch kurze Zeit bei Sinowatz und Vranitzky so, aber es ist eher ungewöhnlich.

Sollte sich die SPÖ in der Opposition regenerieren?

ANDROSCH: Kann man schon, nur ist es eine Flucht aus der Verantwortung.

Was wäre mit Neuwahlen?

ANDROSCH: Jetzt haben wir die Legislaturperiode verlängert, und dann will man nach einem Jahr wieder wählen? Das kommt mir vor, wie wenn ein Ertrinkender nach Sterbehilfe schreit.


Sie haben in einem Interview einen SPÖ-Politiker zitiert, der gesagt hat: „So kann’s net weitergehen, sonst samma weg.“


ANDROSCH: Den alten SPÖ-Abgeordneten, der das gesagt hat, habe ich wieder getroffen, und diesmal hat er resignierend gemeint: „Wo sind wir hingekommen?“ Wo sind wir als SPÖ hingekommen? Besser könnte ich es nicht sagen.