Mit dem "Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich fiel auch die Heil- und Pflegeanstalt in Maria Gugging in die Hände der Nationalsozialisten: Als "unwertes Leben" deklarierte Patienten wurden ermordet oder für Experimente missbraucht. Neue Forschungen zeigen: Die Zahl der Opfer war viel höher als bisher angenommen, wie Historiker Herwig Czech erklärt.

Die erste gegen Menschen mit psychischen Krankheiten oder geistigen Behinderungen gerichtete Etappe bildete auch in Gugging die sogenannte "Aktion T4": Zwischen November 1940 und Mai 1941 wurden 675 Menschen aus der Anstalt Gugging in das in der Nähe von Linz gelegene Schloss Hartheim transportiert und dort vergast. Darunter waren 116 Kinder und Jugendliche unter 17 Jahren - ein im Vergleich zu anderen Einrichtungen ungewöhnlich hoher Prozentsatz.

"Schloss Hartheim und die anderen Vernichtungszentren der 'Aktion T4' waren die ersten Institutionen, die der massenhaften, serienmäßigen Vernichtung von Menschen dienten. Die für die Shoah typische Verbindung von bürokratischer Arbeitsteilung, industrieller Tötungsmethode und wissenschaftlicher Legitimation ist hier bereits idealtypisch vorgezeichnet", so der Historiker. Er wurde von dem heute auf dem Gelände ansässigen Institute of Science und Technology Austria mit der Aufarbeitung der Geschichte der Anstalt beauftragt.

Mit der systematischen Vernichtung befasste sich Czech schon 2008, inzwischen umfasst seine Datenbank knapp 6.000 Eintragungen zu Patienten der Anstalt sowie zu 757 Insassen der Kinderanstalt. Ziel war eine vollständige Erfassung aller Patienten zwischen 1937 und 1946. "Das wurde bisher noch bei keiner größeren psychiatrischen Anstalt gemacht", meinte der Historiker. Den Untersuchungszeitraum über 1945 hinaus begründete er damit, dass in derlei Einrichtungen die Auswirkungen der NS-Zeit noch lange nach Kriegsende spürbar gewesen seien.

Aus diesen Daten schließt Czech nun auf deutlich höhere Opferzahlen als bisher gedacht: Ab 1941 verlagerten sich die als "Euthanasie" verharmlosten Morde an Patienten in die Anstalt selbst. Aber nicht nur diese Morde, auch Tode durch Hunger und Vernachlässigung wurden bisher unterschätzt.

Schon ab Herbst 1939 sind im Vergleich zum normalen Jahresdurchschnitt deutlich höhere Sterberaten in der Anstalt nachzuweisen: Von einer Sterberate von 4,7 Prozent im Jahr 1937 kletterte die Rate schon im Dezember 1939 auf 23 Prozent, im Dezember 1941 waren es 44 Prozent. Nach den Berechnungen des Historikers kam es damit bis 1946 zu zusätzlich rund 1.420 Todesfällen - nicht eingerechnet dabei jene Patienten, die in andere Anstalten überführt wurden und dort ums Leben kamen.

477 Tote lassen sich allerdings direkt mit zwei Ärzten verknüpfen: Der medizinische Leiter der Mordanstalt Hartheim, Rudolf Lonauer, besuchte Gugging von 27. März bis 8. April 1943: In diesen Wochen kam es zu einem sprunghaften Anstieg der Sterbefälle, es scheinen 112 Todesfälle auf, bei denen Lonauer als behandelnder Arzt vermerkt ist. Lonauer ermordete seine Patienten - in der Mehrzahl Frauen - mit einer Überdosis an Medikamenten.

Ähnlich der Fall des Leiters von Gugging, Emil Gelny: Er ist bei 365 Todesfällen als behandelnder Arzt eingetragen. Gelny nutzte die Patienten der Anstalt aber auch für seine Experimente, die er etwa bei einem Treffen von Dutzenden Psychiatern vorführte. "Vor versammeltem Publikum tötete er mithilfe seines umgebauten Elektroschockapparates einen Patienten, um die Effizienz seiner Erfindung zu demonstrieren", schilderte Czech.

Ebenfalls einen großen Teil der Datenbank machen jene Patienten aus, die in andere Anstalten überstellt wurden: Ohne die "T4"-Transporte ereilte 491 Gugginger Insassen dieses Schicksal - sie kamen vor allem in die Pflegeanstalt Am Steinhof sowie nach Meseritz-Obrawalde und Mauer-Öhling. Wie tödlich dies sein konnte, zeigt die Analyse der Kinderanstalt: Von 428 überstellten Kindern und Jugendlichen verstarben 160 in den Zielanstalten (u.a. "Am Spiegelgrund"), 49 wurden später entlassen, 71 der Spiegelgrund-Kinder überlebten. Das Schicksal der weiteren Kinder ist bis heute nicht geklärt.

Verknüpft man diese Zahlen mit den Morden im Zuge der "Aktion T4", kamen von 720 Patienten unter 17 Jahren mindestens 316 - und damit beinahe 44 Prozent - ums Leben. "In Anbetracht des jugendlichen Alters der Patienten ist das außerordentlich hoch", so Czech.

Der Vortrag des Historiker bildet den Auftakt einer Reihe an Gedächtnisvorlesungen. Schon seit 2008 erinnert ein von Dorothee Golz entworfenes Memorial im Garten des IST an die Gräueltaten.