Israel steht gewaltig unter Druck: Auf der einen Seite die Angst vor einem Atomangriff des Iran, auf der anderen Seite die Spannungen mit Ägypten - und niemand weiß, wie sich der Arabische Frühling im Nahen Osten auswirkt. Ihre Einschätzung?

ZERUYA SHALEV: Ich habe vor dem Fernseher gejubelt, als ich die Ägypter während der Revolution auf dem Tahrir-Platz gesehen habe, die für ihre Freiheit gekämpft haben. Aber für gewöhnlich ist es so in Nahost, dass ein Wandel zum Schlimmsten führt. Ich hoffe nur, dass die Menschen mit der Demokratie auch den Frieden wählen.

Vom einstigen US-Außenminister Henry Kissinger stammt die Theorie: Kein Krieg ohne Ägypten, kein Friede ohne Syrien in Nahost. Beide Länder befinden sich im totalen Umbruch. Beängstigend?

SHALEV: Die Salafisten und Muslimbrüder in Ägypten geben keinen Grund zur Hoffnung. Ich denke aber, dass die Muslimbrüder weniger fanatisch und eher pragmatisch werden, wenn sie an der Macht sind, weil sie sich nicht mehr aufplustern müssen. Ich hoffe, dass mit der Macht das Gemäßigte kommt. Aber ich bin keine Politikerin, ich kann nur die Mütter repräsentieren, die überall auf der Welt wollen, dass ihre Kinder in Frieden leben.

Israel steht auch im Innern unter Druck: Die Zahl der Ultraorthodoxen liegt schon bei zehn Prozent. Wenn es nach ihnen geht, müssen Frauen in Bussen hinten sitzen. Wie kann es sein, dass in einem modernen Staat eine so rückschrittliche Gruppe stark wird?

SHALEV: Die Ultraorthodoxen werden noch extremer, weil sie sich von der säkularen Gesellschaft bedroht fühlen. Ich schäme mich, dass die Ultraorthodoxen im Namen des Judentums die Menschenrechte mit Füßen treten. Ihre Haltung gegenüber Frauen ist empörend und unmenschlich. Es ist eine Schande, und es sind beängstigend viele.

Israels Premier Benjamin Netanjahu als Anführer der Hardliner gilt für manche auch als Fanatiker, der keinen Schritt auf die Gegenseite zumacht.

SHALEV: Ja, er ist ein Hardliner. Er macht Riesenfehler, wenn er den Palästinensern keinen Schritt entgegenkommt. Andererseits. . .

. . . ist in Israel mit unseren gängigen Vorstellungen von Konsens wohl auch kein Staat zu machen?

SHALEV: Ja, es ist zu komplex, denn in Israel gibt es nie nur zwei Seiten, sondern immer mehrere. Einerseits müsste unsere Regierung den Palästinensern entgegenkommen. Andererseits liegt nicht die ganze Macht in Händen Israels. Die Geschichte der Israelis und Palästinenser ist bis heute eine Tragödie. Und so absurd es klingt: Sobald Israels Regierung nachgibt, wertet die Gegenseite das nicht unbedingt als Schritt in Richtung Frieden, sondern als Zeichen von Schwäche. Das wird sofort ausgenutzt. Es gibt Dutzende Beispiele dafür: Als die Israelis Gaza verließen, hat die Hamas die Wahlen gewonnen - und mit Raketenangriffen auf Israel gefeiert. Aber ich glaube noch immer an Verhandlungen. Es braucht den Dialog, damit sich das Leben zum Besseren wendet.

Ist US-Präsident Barack Obama hilfreich?

SHALEV: Zu Beginn seiner Amtszeit dachte ich, dass er mit seiner positiven Energie auch im Nahen Osten Verbesserung bringt. Aber wenn ich jetzt zurückblicke, kann ich nur sagen: more of the same. Ich würde gern etwas Positives sagen, aber ich finde nichts.

Jeder Israeli trägt quasi von Geburt an einen Rucksack des Leids und Verlusts mit sich herum: Holocaust, Kriege, Bombenattentate. Wie kann man damit leben?

SHALEV: Ja, diese Hypothek wiegt schwer. Da es bisher noch kein Politiker geschafft hat, Frieden in dieses Land zu bringen, sollten vielleicht einmal Philosophen oder andere Wissenschaftler ans Ruder, um der Absurdität der Gewalt ein Ende zu setzen. Ich habe viele Palästinenser unter meinen Freunden, und jedes Mal denke ich: Sie wollen in Frieden leben. Wir wollen in Frieden leben. Warum ist das nicht zu schaffen? Andererseits gibt es diese negative Energie des Fanatismus, die offenbar stärker ist als der Wunsch des Individuums nach Frieden.

Haben Sie nie daran gedacht wegzugehen? Lieben Sie Ihr Land dermaßen?

SHALEV: Nein, ich glaube nicht, dass ich Israel liebe. Aber ich gehöre dorthin. Wenn ich nach Mitteleuropa reise, staune ich immer wieder darüber, wie frei und unbeschwert sich die Menschen in den Straßen bewegen. Hier hat es eine ganze Generation lang keinen Krieg gegeben. Niemand muss sich ernsthaft fürchten, in die Luft gesprengt zu werden, wenn er vor die Tür tritt. Auch ich wünsche mir Frieden für meine Kinder und meinen adoptierten Sohn.

Sie haben den Buben nach dem Bombenattentat in Jerusalem adoptiert, das Sie knapp überlebten. Haben Sie dem Tod mit dem Leben geantwortet?

SHALEV: Wahrscheinlich war das unbewusst so, ja. Es ist für mich jedenfalls ein positives Statement auf das, was ich erlebt habe.

Wie sehr hat das Attentat im Jahr 2004 Ihr Leben verändert?

SHALEV: Nach so einer Katastrophe ist natürlich nichts mehr, wie es vorher war. Ich war ein halbes Jahr ans Bett gefesselt, mein Knie war zertrümmert. Körperlich bin ich genesen, aber die Bilder im Kopf sind geblieben: die Toten, das gesplitterte Glas, neben mir ein abgetrenntes Bein. Zwischendurch war ich besessen von dem Gedanken, mit meinen Kindern aufs Land zu ziehen, in eine isolierte Gegend, ohne Busse, denn Busse waren Monster für mich. Aber man kann sich aus Angst vor dem Terror nicht abschotten.

Ihr ältester Sohn ist bald so weit, dass er zum Militär muss. . .

SHALEV (seufzt): Ende 2013.

Dann drei Jahre Militärdienst.

SHALEV: Meine Tochter hat ihren Militärdienst schon hinter sich. Es ist einfacher für Mädchen, und es waren nur zwei Jahre. Aber mein Sohn wird mit dem Gewehr in der Hand seinen Dienst tun. Schon als er geboren wurde, als ich das kleine Bündel erstmals in Händen hielt, habe ich gebetet, dass wir in 18 Jahren Frieden haben. Aber das ist nicht passiert. Man kann nur hoffen, dass das Glück mit ihm ist.

In diesen Tagen jährt sich der Jahrestag der Staatsgründung Israels zum 64. Mal: Vom Alter her könnte das Land zwischen Midlife-Crisis und Altersdepression stecken.

SHALEV: Israel kommt mir eher vor wie ein Kind mit dieser genetischen Störung, bei der es innerhalb von wenigen Jahren ins Greisenalter kommt. Alles bei uns läuft so intensiv und schnell ab. Einerseits ist der Staat alt, zynisch und müde, andererseits hat Israel noch nicht einmal seine Reifeprüfung geschafft.

Aus Protest gegen erdrückende Wohnungskosten und die hohen Lebensmittelpreise haben vorigen Sommer Hunderttausende in Israel für soziale Gerechtigkeit demonstriert. Haben die Aufmärsche etwas bewirkt?

SHALEV: Nicht viel, Lebensmittel sind nach wie vor teuer, Wohnungen fast unleistbar, aber die Proteste haben zu etwas anderem geführt: Es gab ein unglaubliches Gefühl der Solidarität quer durch die Gesellschaft. Erstmals ging es um die sozialen Fragen im Land und wie Israel sie beantworten will. Zumindest einen Sommer lang sind die Sorgen um Sicherheit und Selbstmordattentäter in den Hintergrund gerückt. Es war plötzlich wie ein neues Israel. Der Sommer des neuen Israel. Jetzt hoffen wir alle auf den nächsten Sommer.

Viele israelische Autoren haben die öffentliche Verurteilung des israelkritischen Gedichts von Günter Grass gefordert. Sie nicht. Warum nicht?

SHALEV: Mich hat sein Text total traurig gemacht, ich verehre ihn als Autor. Er hat so wunderbare Bücher geschrieben, dass ich nicht glauben kann, dass er wirklich meint, was er da schreibt. Ich erwarte mir von einem großen Schriftsteller, dass er fähig ist, die Welt in ihrer Komplexität zu erfassen. Andererseits finde ich die Reaktion auf das Grass-Gedicht kindisch und hysterisch.

Da Sie Bibelwissenschaften studiert haben: Welchen Satz aus der Bibel finden Sie besonders wichtig?

SHALEV: Das Buch Jesaja, Kapitel 2. Da heißt es: "Am Ende der Tage wird es geschehen: (...)Dann schmieden sie Pflugscharen aus ihren Schwertern/und Winzermesser aus ihren Lanzen. Man zieht nicht mehr das Schwert, Volk gegen Volk,/und übt nicht mehr für den Krieg."