Im Konzert der Großen gehen die Stimmen der Kleinen oft unter. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, der französische Präsident François Hollande, Italiens Regierungschef Mario Monti, der Spanier Mariano Rajoy und der Brite David Cameron: Sie geben in der Europäischen Union in diesen Krisenzeiten den Ton an. Sie streiten lautstark über Weg, Richtung und Ziel der europäischen Politik. Die "schwäbische Hausfrau" Merkel will vor allem sparen, um den Euro zu retten. Die Südländer und der Franzose Hollande setzen auf Wachstum und wollen dafür Geld ausgeben. Cameron kämpft für die Freiheit der Finanzmärkte. Aber wer hört in diesem dissonanten Chor der Großen schon die Stimme von Toomas Hendrik Ilves?

Klein, aber fein

Der 59-Jährige ist Präsident der Republik Estland. Gerade einmal 1,3 Millionen Menschen leben dort. Metropolen wie Hamburg oder München haben mehr Einwohner. Ilves hat entsprechend wenig Macht in Europa. Aber es könnte sich lohnen, ihm zuzuhören. Sein Land ist dabei, Erfolgsgeschichte zu schreiben.

Keine Region in Europa war 2009 von der Wirtschafts- und Finanzkrise so stark betroffen wie das Baltikum. Auch Griechenland nicht. Doch keine Region hat sich so schnell erholt wie die drei Mini-Staaten an der Ostsee. Estland hatte sogar die Stärke, 2011 der Euro-Zone beitreten zu können. Die Nachbarn Lettland und Litauen haben das Zieldatum 2014 ins Auge gefasst. "Wir tun, was wir beschlossen haben", sagt Ilves und lässt anklingen, dass das im Süden Europas nicht der Fall ist. Während die Esten eisern sparen und arbeiten, gehen Griechen und Spanier auf die Straße. So sieht Ilves die Dinge.

Der estnische Präsident versucht in diesen Tagen, sich Gehör zu verschaffen. Er legt sich mit den Großen an. Weniger in der Politik, eher mit den Koryphäen der Wirtschaftswissenschaft, wie dem amerikanischen Wirtschafts-Nobelpreisträger Paul Krugman. Der hat sich mit einem Buch gegen Merkel positioniert: "Vergesst die Krise! Warum wir jetzt Geld ausgeben müssen", heißt das Werk. Ilves dagegen hält es mit Merkel und ihrer Spardisziplin. "Uns aus den USA Lehren erteilen zu wollen, ist befremdlich", sagt er. Das Haushaltsdefizit der Amerikaner bewege sich auf einem ähnlichen Niveau wie das Griechenlands. Krugman hatte den Esten einen "schrecklichen Einbruch und eine unvollständige Erholung nach der Krise" attestiert. Der radikale Sparansatz der Balten passt nicht in sein Konzept. Ilves verbittet sich öffentliche "Belehrungen für uns dumme Balten".

Über den Internetdienst Twitter veröffentlichte er eine Grafik zur Wettbewerbsfähigkeit in Europa. Vorn liegen die Skandinavier, gefolgt von Deutschland, Österreich, den Beneluxstaaten, Briten und Franzosen sowie auf Rang elf Estland - mit deutlichem Vorsprung zu den Südeuropäern.

Die estnische Wirklichkeit hat aber auch Grautöne aufzuweisen. "Die Lebensqualität ist schlechter geworden", sagt Margus Riimaa, der vor Kurzem nach Tallinn zurückgekehrt ist. Drei Jahre lang hat der Konzertpianist in den USA und England gelebt. "Mein Vater hat inzwischen seinen Job verloren. Meine Eltern können sich keinen Urlaub mehr leisten", erzählt der 30-Jährige: "Die Zeiten sind hart." Das weiß auch Ilves. Aber gerade auf diese Härte ist der Präsident stolz.

Glanz und Elend

Die ökonomischen Kennziffern geben ihm weitgehend recht. Estland hatte nach dem EU-Beitritt 2004 einen Boom mit Wachstumsraten von bis zu zehn Prozent erlebt. Als 2009 die Krise hereinbrach, ging es um 14 Prozent bergab. Aber schon 2011 verzeichnete Estland wieder 7,6 Prozent Wachstum. Zugleich wahrte die baltische Republik strikte Budgetdisziplin. Die Gesamtverschuldung liegt bei sechs Prozent. Das ist einzigartig in Europa. Der langjährige Klassenprimus Luxemburg rangiert mit 18,2 Prozent auf Platz zwei. Schlusslicht Griechenland hatte im Vorjahr 165,3 Prozent zu bieten.

Doch die Krise hat in Estland tiefe Spuren hinterlassen. Die Arbeitslosenquote schnellte von 5,7 Prozent im Jahr 2008 auf 17,5 Prozent (2010). Mitten in der Rezession kürzte die Regierung die Beamtengehälter um ein Viertel.

Aber Riimaa erzählt die Geschichte eines Bekannten, der als Kraftfahrer arbeitet. 700 Euro verdiene der Mann im Monat. Das ist der estnische Durchschnitt. "Er hat ein fantastisches Haus in Tartu. Um so viele Quadratmeter in London zu bewohnen, muss man Millionär sein. Es geht uns schlechter als 2008, aber es geht uns nicht schlecht."

Proteste gegen die Sparpolitik sind in Estland und den Nachbarländern schwer vorstellbar. In Estland und Lettland wurden die Regierungen 2011 wiedergewählt. Das Volk bestätigte jene Politiker, die den Gürtel enger geschnallt hatten. Die lettische Sozialwissenschaftlerin Maria Golubeva erklärt dies mit der "nordischen Mentalität". Im Baltikum habe man sich "immer an Deutschland und Skandinavien orientiert".

"Es gibt Schlimmeres als eine Wirtschaftskrise", sagt der Pianist Margus Riimaa. Er spielt damit auf die lange Sowjetherrschaft im 20. Jahrhundert an. Seine Worte klingen mutig und bescheiden zugleich. Möglicherweise könnte diese nord-östliche Mentalität den Balten aber auch die Zukunft verbauen. In Europa, so vermittelt es Präsident Ilves, werden Verteilungskämpfe ausgetragen. Die Balten halten sich in seinen Augen zu sehr zurück. Und Tatsache ist: Wer schweigt, wird im Konzert nicht gehört - ob groß oder klein.