Nach dem Brexit-Schock setzt die EU auf Reformen und Prinzipientreue gegenüber den nach neuen Sonderregelungen trachtenden Briten. Es könne keinen Binnenmarkt "a la carte" geben, richteten EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Ratspräsident Donald Tusk London nach dem ersten Gipfel der EU-27 am Mittwoch in Brüssel aus. Vertragsänderungen und Referenden wollen die EU-Chefs vermeiden.

Im Gleichklang betonten beide, dass "die vier Grundfreiheiten geachtet" werden müssen, darunter die Personenfreizügigkeit. Tusk und Juncker wiesen damit den Wunsch Großbritanniens zurück, am EU-Binnenmarkt teilzunehmen und zugleich die Grenzen für Arbeitskräfte aus anderen EU-Staaten schließen zu können. Angesprochen auf das weitere Prozedere mit Großbritannien sagten sie, dass es keine Austrittsverhandlungen geben werde, solange London nicht den Austrittsantrag nach Artikel 50 gestellt habe.

Keine großen Reformen

Kurz zuvor hatte der britische Premier David Cameron im Londoner Unterhaus gesagt, es könnte Gespräche noch vor dem offiziellen Austrittsantrag geben. "Sie haben 'Keine Verhandlungen ohne Notifizierung' gesagt, aber ich glaube nicht, dass das Gespräche ausschließt, die der neue Premierminister mit seinen Partnern oder mit den Institutionen haben kann, damit wir ordentlich rauskommen", sagte Cameron. Mit dem Austrittsantrag beginnt eine Zwei-Jahres-Frist zu laufen, nach der Großbritannien seinen Status als EU-Mitglied verliert.

Unisono erklärten die EU-Spitzen, dass es bei der künftigen Neuausrichtung der EU keine Vertragsänderungen geben werde. Die laufenden Reformen würden "beschleunigt", betonte Juncker. Es werde auch keine Vertragsänderung geben, keinen Konvent, "das ist allgemeine Auffassung", so Juncker mit Blick auf die in Volksabstimmung gescheiterte EU-Verfassung. Auch werde "keine unüberlegte Vertiefung der EU" angestrebt. Es gehe darum, "das was wir beschlossen haben, so rasch wie möglich umzusetzen".

Ähnlich äußerten sich andere Regierungschefs. "Es ist jetzt kein Zeitpunkt, über große Reformen, riesige Visionen und einen Neubeginn zu diskutieren", sagte Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ)."Wir können mit den Verträgen arbeiten", betonte die deutsche Kanzlerin Angela Merkel. Kern wandte sich auch klar gegen Volksabstimmungen, weil diese "mit artfremden Diskussionen überfrachtet" würden. "Vor diesem Hintergrund werden wir Österreich keinem Referendum aussetzen."

"Die EU kann nicht so tun, als wäre nichts geschehen", betonte der italienische Premier Matteo Renzi. Er brachte unter anderem eine "Ad-hoc-Bürgerschaft" für britische Jugendliche ins Spiel, damit diese auch nach einem EU-Austritt Großbritanniens "Teil der großen europäischen Familie" bleiben können. Über die EU-Reform wollen die Staats- und Regierungschefs am 16. September bei einem informellen Treffen in Bratislava beraten, dem ersten Gipfel außerhalb Brüssels seit Jahren. In der Schlusserklärung des Gipfels hieß es, wegen der "Unzufriedenheit" vieler Menschen beginne die EU "mit einem politischen Reflexionsprozess zur Zukunft, um einen Impuls für die EU mit 27 Mitgliedsstaaten zu geben".

Kein zurück

Bundeskanzler Kern wandte sich auch gegen Spekulationen, dass es sich London noch einmal überlegen könnte. Cameron sei beim Gipfel "völlig klar" gewesen. "Er geht von einem Austritt aus." Der britische Premier ließ aber am Mittwoch durchblicken, dass sich London im Notfall für einen EU-Verbleib entscheiden könnte. "Das Vereinigte Königreich zusammenzuhalten ist das alles überragende nationale Interesse für unser Land", sagte er im Unterhaus mit Blick auf die Drohung des pro-europäischen Schottland, Großbritannien zu verlassen.

Schottland sondierte indes bereits die Chancen für eine Fortsetzung seiner EU-Mitgliedschaft. Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon traf in Brüssel mit Parlamentspräsident Martin Schulz und Kommissionspräsident Juncker zusammen. "Schottland ist entschlossen, in der Europäischen Union zu bleiben", sagte Sturgeon. Juncker sagte dazu: "Schottland muss seine Stimme in Brüssel geltend machen." Die EU werde sich aber nicht "in interne britische Verfahren" einmischen.