Was in Europas Staatskanzleien  bis zum gestrigen Tag kein Politiker laut auszusprechen wagte, ist eingetreten. Großbritannien hat mehrheitlich für den Ausstieg aus der EU gestimmt. Dieses Votum ist eine historische Zäsur in der Geschichte der Europäischen Union. Ein Votum, das das vereinte Europa in seinen Grundfesten erschüttern wird.

Denn bisher war die EU auf kontinuierliches Wachstum ausgerichtet. Dass ihr ein Staat, noch dazu ein solches politisches und wirtschaftliches Schwergewicht wie das Vereinigte Königreich, nun den Rücken kehrt, war im Drehbuch der europäischen Integration nicht vorgesehen. Das hat es noch nie gegeben. Gut möglich, dass die Briten nun auch anderen Mitgliedsstaaten als Vorbild dienen werden, die ihr Heil in neuer Kleinstaaterei suchen.

Will das vereinte Europa nicht untergehen, muss es mit tiefgreifenden Reformen reagieren. Es darf das britische Votum nicht als bedauerlichen, aber einmaligen Betriebsunfall abtun und mit europäischem Pathos zukleistern.

Vielmehr muss sich die EU an Haupt und Gliedern erneuern. Sie muss demokratischer, bürgernäher, transparenter und rascher in ihren Entscheidungen werden. Ob die krisengeschwächten Europäer die Kraft dazu aufbringen, ist fraglich. Schaffen sie es nicht, ihre nationalen Urinstinkte, die gegenwärtig überall in Europa aggressiv  erwachen, zu bändigen und der Zerfaserung des europäischen Projekts entgegenzuwirken, wird das vereinte Europa in Bedeutungslosigkeit versinken.