Der islamistische Terror macht auch moderate Muslime zum Feindbild; Rechtspopulisten sind auf dem Vormarsch. In Deutschland brennen Flüchtlingsheime. Wie schätzen Sie das Risiko ein, dass sich Phänomene der 30er-Jahre in einem zerfallenden Europa wieder zeigen könnten?

TIMOTHY SNYDER: Ich glaube, es ist hoch. In Europa herrscht eine tragische Art von Amnesie vor. Die Leute erinnern sich nicht mehr, wie die Menschen sich damals verhalten haben. Und wir haben wenig Grund zu der Annahme, dass wir den Europäern der 1930er- und 1940er-Jahre moralisch überlegen sind.

Noch ist es aber nicht so weit.

SNYDER: Der Hauptunterschied zu damals besteht in der besseren wirtschaftlichen Situation und der europäischen Integration. Ich glaube aber tatsächlich, dass man in einem zerbrechenden Europa einen Rückfall sehen wird.

Welche Lektionen aus der Historie haben wir verschlafen?

SNYDER: Die Bedeutung souveräner Staaten, gerade in Krisenzeiten, ist den wenigsten bewusst. Das hat man 2013 an der europäischen Reaktion auf die Ukraine-Krise gesehen. Deren Recht auf Souveränität wird nicht von allen verstanden. Um spezifisch bei Österreich zu bleiben: Mir scheint, die Österreicher haben vergessen, wie schrecklich und schwierig es war, keine Freunde zu haben. Zu Beginn hatte Österreich Italien als Beschützer, doch dann hat Rom es sich 1936 anders überlegt, und man stand alleine da. Von da an war es nur noch eine Frage der Zeit, wann und unter welchen Bedingungen es von Nazi-Deutschland einverleibt würde. Die Briten und Franzosen hat das nicht gekümmert, die USA waren weit weg. Ein kleines Land wie Österreich muss sich wirklich überlegen, wo es ohne starke EU-Strukturen stehen würde. Ich glaube, die Europäer haben auch die wichtigste Lektion aus der Globalisierung nicht verstanden. Es hat zwei Globalisierungswellen gegeben: Eine begann in den 1870er-Jahren und endete mit der großen Wirtschaftskrise, dem Ersten und Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust. Jetzt befinden wir uns in der zweiten Globalisierungswelle, die in den 1970er-Jahren begann. Auch sie hatte bereits ihre eigene Wirtschaftskrise. Die EU ist ein Schutzschirm gegen die Kräfte der globalen Wirtschaft. Schauen wir in die USA: Wir haben nicht dasselbe Ausmaß an staatlichem Schutz, wie es ihn hier in Europa gibt; das ist einer der Gründe, warum wir uns ständig so verletzlich fühlen und verrückte Dinge tun. Wenn Europa in Einzelstaaten zerfällt und jeder allein versucht, sein Staatsgebilde am Laufen zu halten, wird es sehr schwierig werden. Gerade der Wohlfahrtsstaat, den die Österreicher für selbstverständlich halten, könnte dann bald der Vergangenheit angehören. Alles wird möglich, wenn jeder gegen jeden kämpft.

In Ihrem letzten Buch beleuchten Sie die These, der Holocaust sei keineswegs ein singuläres Ereignis gewesen, das sich nicht wiederholen könne. "Den Holocaust zu verstehen ist unsere Chance, vielleicht unsere letzte, um Menschheit und Menschlichkeit zu bewahren", schreiben Sie.

SNYDER: Die ganze Vorstellung der Singularität des Holocausts ist aus meiner Sicht eine kulturelle Obsession im deutschsprachigen Raum. Sie hat damit zu tun, wie Deutsche und Österreicher den Holocaust minimalisieren, weil sie glauben, ihn so verstehen zu können. Singularität bedeutet aber: Ich werde gar nie ernsthaft über all das nachdenken. Anstelle in Reflexion oder Interpretation einzutreten, wird versucht, ein Tabu in Bezug auf den Holocaust zu errichten. Natürlich unterscheidet sich der Holocaust von anderen Massenmorden. Es hat kein zweites Mal den Versuch gegeben, ein ganzes Volk von der Erdoberfläche zu entfernen. Aber das kann nicht das Ende der Auseinandersetzung sein.

Was würden Sie sich denn stattdessen erwarten?

SNYDER: Die Auseinandersetzung muss mit der Frage beginnen: Wie konnte das geschehen - zu einem Zeitpunkt und an einem Ort, die nicht weit vom Jetzt entfernt liegen? Erst wenn wir die Ursachen verstanden haben, besteht die Chance, dass wir ähnliche Entwicklungen heute vermeiden können. Doch das wird einfach nicht diskutiert, weder in Europa noch den USA. Wir konzentrieren uns auf die Periode von Hitlers Aufstieg und Machtübernahme 1939, die Gleichschaltung, die Nürnberger Gesetze, die Reichskristallnacht - all das als Inbegriff der Erschaffung des perfekten autoritären Nationalstaates. Aber es war nicht dieses Vorkriegssystem allein, das den Holocaust ausgeführt hat. In Deutschland war das gar nicht möglich, weil es dort nicht viele Juden gab. Das Entscheidende ist: Dieses System konnte den Holocaust nur durchführen, indem andere Staaten zerstört wurden, in Zonen, in denen die traditionellen politischen Institutionen zerstört wurden: Österreich, Tschechoslowakei, Polen, Teile der Sowjetunion. 97 Prozent der Juden, die während des Holocausts umkamen, stammten nicht aus Deutschland. Fast 100 Prozent der getöteten Juden starben in Zonen, in denen die deutsche Macht zuvor den Staat zerstört hatte.

Welche Schlüsse ziehen Sie daraus für heute?

SNYDER: Die Zerstörung und das Scheitern von Staaten müssen für uns ein Warnsignal für Massenmord sein. Aus historischer Sicht ist das eindeutig, und es hat politische Implikationen. Hätte die US-Regierung dieses Faktum 2003 berücksichtigt, wäre sie zu anderen Schlüssen in Bezug auf einen Einmarsch im Irak gekommen. Wenn man weiß, dass der Holocaust entstand, nachdem Staaten vernichtet wurden, würde man wohl zögern, einen bestehenden Staat zu zerstören - selbst einen sehr unvollkommenen wie den damaligen Irak. Dasselbe gilt mit Blick auf die Ukraine 2013: In dem Moment, als die russische Führung einen Diskurs begann, wonach die Ukraine kein echter Staat sei, hätten die Alarmglocken läuten müssen. Schon bald wurden die staatlichen Institutionen auf der Krim und in der Ostukraine mit russischer Unterstützung ausgehebelt. Aber weil wir den zu erwartenden Massenmord nicht mit der Zerstörung staatlicher Strukturen assoziieren, haben wir die Warnung nicht verstanden. Das Ergebnis war nicht gleich wie im Irak, aber dennoch sehr schlimm. Zwei größere europäische Städte - Donezk und Luhansk - wurden zum Kriegsgebiet. Es gibt eine große Zone ohne staatliche Kontrolle, in der etwa 10.000 Menschen ums Leben kamen; zwei Millionen Menschen wurden zu Flüchtlingen. Die großen geopolitischen Desaster unserer Zeit hängen mit Unwissen darüber zusammen, wie es zum Holocaust kam.

Befürchten Sie tatsächlich einen neuen Holocaust?

SNYDER: Natürlich werden die Deutschen nicht noch einmal Millionen Juden in Polen, der Ukraine und Weißrussland umbringen. Ich sage nur: Wir sollten Ausschau halten nach Momenten, in denen Staaten zerstört werden. Natürlich ist nicht alles gleichzusetzen mit dem Holocaust. Aber auch eine sehr kleine Episode, bei der versucht wird, nationale Souveränität aufzuheben, ist für die Menschen in den betroffenen Gebieten extrem gefährlich.

Dass einzelne Bevölkerungsgruppen stigmatisiert werden, kann man unter anderem im Wahlkampf Donald Trumps beobachten, der etwa Muslime pauschal und sehr polemisch als Gefahr brandmarkt. Auch in Europa werden Flüchtlinge zunehmend als Bedrohung dargestellt. Werden die Muslime zu den Juden unserer Zeit?

SNYDER: Ich glaube nicht, dass die Situation strukturell viele Gemeinsamkeiten aufweist. Die Art und Weise, wie Juden in den 30er-Jahren in der nationalsozialistischen Presse dargestellt wurden, basierte auf dem Rassegedanken und prägte bald alle ethisch-politischen Normen. Muslime werden als Gefahr dargestellt, die unsere Zivilisation zerstören werde. Das ist ein anderes Argument. Ich sage nicht, dass es weniger gefährlich ist. Rhetorik und Soziologie sind anders als damals. Dass Muslime zunehmend als internationale feindliche Gruppe stigmatisiert werden, ist eine reale Gefahr. Es macht mir große Sorgen, wie schnell die politische Rhetorik in den USA, aber auch in Frankreich in diese Richtung geschwenkt ist.

Der Hass drückt sich in den sozialen Medien aus. Da wird mit Begriffen wie "Lügenpresse" und "Kartell der Altparteien" Terminologie aus der Vorkriegszeit verwendet.

SNYDER: Das Internet erlaubt es, in der Masse unsichtbar zu bleiben. Dazu kommt aber, dass ein Teil des Hasses im Netz Teil der russischen Regierungspolitik ist. Es werden Leute dafür bezahlt, Emotionen gegen Einwanderer zu schüren, um die politische Stimmung in Europa zugunsten der europafeindlichen Rechten zu beeinflussen. Moskau sieht die EU als etwas, was seinen Interessen widerspricht, und glaubt, mit einem rechtslastigen Europa leichteres Spiel zu haben. Der Front National wird von Russland direkt unterstützt. Wenn Europa wieder in kleine nationale Einheiten zerfällt, wird Russland mächtiger - so das Kalkül.

Wo sehen Sie das größte Risiko für ein Erstarken autoritärer Tendenzen oder Gewaltbereitschaft?

SNYDER: China hat nicht genug nutzbaren Boden, nicht genug Wasser. Es erinnert stellenweise an Deutschland in den 30er-Jahren und ist abhängig vom unvorhersehbaren Lauf der globalen Wirtschaft. Der Gedanke, dass sich China Land sichern muss, sei es in Afrika oder in Sibirien, wird in Peking bereits gewälzt. Für den Westen Folgen haben wird der Klimawandel. Er bedeutet, dass es über die nächsten 30 bis 40 Jahre Migration von Süden nach Norden geben wird, weil wir den südlichen Teil der Welt in eine Wüste verwandeln. Das wird politische Folgen haben, und der Krieg in Syrien ist eine davon.

Sehr optimistisch sind Sie nicht.

SNYDER: Entscheidend wird sein, ob wir unsere Ängste auf andere projizieren, die Flüchtlinge etwa oder Brüssel, und uns als Opfer sehen - was wir nicht sind. Die Menschen in den verwüsteten Gebieten und Kriegszonen sind die Opfer. Die Schlüsselfrage für die Zukunft wird sein, ob wir die Probleme als Einzelereignisse betrachten und aus unseren Gefühlen darauf reagieren oder ob wir sie aus größerem Blickwinkel betrachten und strukturell zu lösen versuchen.

INTERVIEW: NINA KOREN