Die zweite Runde der Präsidentenwahl war nach zweimaliger Verschiebung auf unbestimmte Zeit vertagt worden. In der ersten Runde am 25. Oktober hatte der Kandidat der Regierung, Jovenel Moise, mit 32,7 Prozent der Stimmen den ersten Platz erreicht. Der Oppositionskandidat Jude Célestin, der mit 25,3 Prozent Zweiter wurde, warf der Regierung aber Wahlfälschung vor und sprach von einer "lächerlichen Farce". Die ursprünglich für den 27. Dezember geplante Stichwahl wurde zunächst auf den 24. Jänner verschoben, dann aber mangels Einigung mit der Opposition ganz vertagt.

"Die Geschichte wird sich trotz Wind und Gezeiten an den Stein erinnern, den ich zur Errichtung eines schöneren Haitis beigetragen haben", sagte Martelly in seiner Abschiedsrede, die er auf Französisch und Kreolisch hielt. Sie werde sich "auch meiner Niederlagen erinnern, die ich auf mich allein nehme, und unter denen mein größtes Bedauern der Verschiebung der Wahlen gilt". Martelly nutzte die Rede auch, um seine Familie gegen Vorwürfe der Unterschlagung zu verteidigen.

Martelly musste gemäß der Verfassung am Sonntag abtreten, auch wenn kein Nachfolger bereitsteht. Wenige Stunden vor seinem Abtritt hatte Martelly eine Einigung mit den Präsidenten der beiden Parlamentskammern getroffen, wonach die Nationalversammlung binnen fünf Tagen einen Übergangspräsidenten für maximal 120 Tage wählt. Unter den Favoriten für den Posten sind Senatspräsident Privert und der Präsident des Kassationsgerichts, Jules Cantave.

Martelly verteidigte bei seinem Abgang die Bilanz seiner fünfjährigen Amtszeit. Trotz eines lähmenden Streits zwischen Regierung und Opposition war der Wiederaufbau des Landes nach dem verheerenden Erdbeben von Jänner 2010 vorangekommen. "Haiti erholt sich", sagte der frühere Musiker. Diese Erholung könne überall im Land festgestellt werden.

Das im Westteil der Karibikinsel Hispaniola gelegene Haiti gilt als ärmstes Land Lateinamerikas. Das Erdbeben verschlimmerte im Jänner 2010 die Lage. 40 Prozent des Staatshaushalts werden durch Entwicklungshilfe finanziert. In den vergangenen Jahrzehnten wurden Präsidenten häufig vom Militär oder durch Volksaufstände aus dem Amt gejagt.