Im Gegenzug für Hilfe der Türkei bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise stellt die EU dem Land laut einem Entwurf die Visafreiheit für seine Bürger in Aussicht. Die EU strebe eine Aufhebung der Visapflicht für Türken im Oktober 2016 an, falls das Land bis dahin bestimmte Anforderungen erfülle, heißt es in einem Entwurf der Abschlusserklärung des EU-Türkei-Gipfels am Sonntag in Brüssel. Die EU will mit der Türkei künftig zweimal jährlich reguläre Gipfeltreffen abhalten.

Außerdem sagt die EU laut dem der Nachrichtenagentur Reuters vorliegendem Entwurf zunächst drei Milliarden Euro für eine bessere Versorgung der Flüchtlinge an Ort und Stelle in der Türkei zu. Über weitere Hilfen solle abhängig von der Entwicklung der Flüchtlingskrise beraten werden.

Voraussichtlich keine neuen Kontingente

Der EU-Türkei-Gipfel wird aller Voraussicht nach Sonntag keine neuen Kontingente über mögliche Flüchtlinge Richtung Europa beschließen. Bei einem Mini-Gipfel von sieben Nettozahler-Ländern und Griechenland im Vorfeld des Gipfels wurde vielmehr Solidarität jener EU-Staaten eingefordert, die bisher einer Verteilung von Schutzbedürftigen ablehnend gegenüberstehen.

Meldungen, wonach 400.000 Flüchtlinge aus der Türkei in EU-Staaten übernommen werden sollten, wurden zurückgewiesen. Konkret gehe es darum, ob es die Türkei schaffe, in den nächsten Wochen und Monaten den Flüchtlingsstrom Richtung Europa einzudämmen. Wenn dies geschehe, sei die Bereitschaft seitens der EU viel größer, über eine gewisse Anzahl zu sprechen, die in den Staaten der Union verteilt werden könnten.

Die beim EU-Gipfel mit Ankara zu beschließende Hilfe von drei Milliarden Euro für Flüchtlinge in der Türkei soll in Grundzügen beschlossen werden, wobei diese Finanzhilfe auf zwei Jahre gelten soll. Dieses Geld soll zweckgewidmet sein zur Unterstützung von Flüchtlingen in den Bereichen Gesundheit und Bildung.

Der Mini-Gipfel mit Österreichs Kanzler Werner Faymann (SPÖ), Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel, dem niederländischen Premier Mark Rutte, Belgiens Premier Charles Michel, dem schwedischen Regierungschef Stefan Löfven, dem finnischen Premier Juha Sipilä sowie dem luxemburgischen Regierungschef und EU-Ratsvorsitzenden Xavier Bettel wurde am Sonntag kurz nach Mittag in Brüssel mit dem griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras sowie Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und seinem Stellvertreter Frans Timmermans abgehalten. Diese "gleichgesinnten" Länder würden sich auch in Zukunft treffen, sei vereinbart worden, hieß es.

"Historischer Tag"

Außerdem sollen die festgefahrenen Verhandlungen mit der Türkei über einen EU-Beitritt wiederbelebt werden. Geplant sei, im Dezember über weitere Themengebiete zu sprechen. Weitere Kapitel sollten für das erste Quartal 2016 verhandlungsreif gemacht werden. Darüber hinaus sollen zweimal im Jahr Gipfeltreffen der EU und der Türkei stattfinden. Die Beitrittsverhandlungen laufen schon seit zehn Jahren.

Der türkische Ministerpräsident Ahmed Davutoglu hat den Gipfel daher als "historischen Tag" bezeichnet. Es gehe darum, den Beitrittsprozess seines Landes zu dynamisieren. Außerdem würden die jüngsten Entwicklungen in und um Europas Nachbarschaft erörtert. Es gebe eine gemeinsame Zukunft der EU und der Türkei, wobei auch das Migrationsthema zur Sprache komme. Er danke allen EU-Länderchefs "für diesen neuen Beginn, nicht eines Treffens, sondern eines neuen Prozesses, der sehr wichtig ist für die Zukunft Europas", so Davutoglu.

Merkel: Schleppern das Handwerk legen

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat vor dem EU-Türkei-Gipfel in Brüssel betont, dass es notwendig ist, illegale Migration durch legale Einwanderung zu ersetzen. Dazu werde es regelmäßige Treffen mit der Türkei gebenBisher habe die Türkei nur wenig internationale Unterstützung für die Beherbergung von zwei Millionen Flüchtlingen aus Syrien bekommen.

Die Türkei erwarte "zu Recht" eine Entlastung. Dabei gehe es um bessere Lebensbedingungen für die Flüchtlinge, um Zugang zum Arbeitsmarkt und um Unterstützung für das Schulsystem. Der Gipfel soll auch helfen, den Schleppern das Handwerk zu legen, sagte Merkel. Es gehe auch darum, eine "breitere Agenda" mit der Türkei zu verhandeln.

"Aktive Kooperation"

Im Gegenzug verpflichtet sich die Türkei, die Ausreise von Migranten ohne Aussicht auf Asylrecht in die EU zu verhindern. Die EU geht die gleiche Verpflichtung gegenüber der Türkei ein. Die Abschlusserklärung kann sich noch verändern, da das Gipfeltreffen in Brüssel erst um 16.00 Uhr beginnt.

"Beide Seiten werden wie vereinbart und mit sofortiger Wirkung ihre aktive Kooperation bei den Migranten, die keinen internationalen Schutz brauchen, erweitern, indem Reisen in die Türkei und nach Europa verhindert werden, die geschaffenen bilateralen Rückführungsregeln angewendet werden und Migranten, die keinen internationalen Schutz brauchen, rasch in ihre Heimatländer zurückgebracht werden", heißt es wörtlich in dem Gipfel-Entwurf.

Der türkische Regierungschef Ahmet Davutoglu sagte bereits vor seinem Abflug nach Brüssel in Ankara, der erste EU-Türkei-Gipfel seit elf Jahren werde "neuen Schwung" in die beiderseitigen Beziehungen bringen. "Es ist bereits vereinbart worden, dass die Türkei das Flüchtlingsproblem nicht alleine schultern soll." Auch der gemeinsame Aktionsplan sei unter Dach und Fach.

Die Türkei gilt für die Europäer als Schlüsselland zur Bewältigung der Flüchtlingskrise. Als Nachbarstaat des Bürgerkriegslandes Syrien war sie zuletzt Hauptdurchgangsland für Hunderttausende Menschen, die in die EU wollten.

"Wir dürfen nicht naiv sein"

Die EU erwartet laut Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) von Ankara eine "vollständige Umsetzung des Rückübernahmeabkommens zwischen der EU und der Türkei" sowie einen gemeinsamen Schutz der Außengrenzen.

Faymann hat die "Gipfelerklärung" im Vorfeld als positiv bezeichnet. Der Weg stimme, diesen müsse man nun "Schritt für Schritt verwirklichen". Die gemeinsame Grenzsicherung mit der Türkei und Griechenland sei jedenfalls "Neuland in der Europäischen Union". Allerdings sei es für neue Kontingente der Flüchtlingsverteilung noch zu früh.

Werner Faymann
Werner Faymann © AP

Aber es sei "realistischer, funktioneller und menschlicher als das Gerede, wir zäunen uns alle ein und stehen dahinter und fürchten uns, dass jemand über den Zaun kraxelt", meinte der Bundeskanzler.

Kolportiert wurde im Vorfeld, dass am Sonntag die Verteilung weiterer 400.000 Flüchtlinge beschlossen werden soll. "Wir haben 160.000 beschlossen zu verteilen und bringen das nicht zusammen, weil wir die Organisation in Griechenland gar nicht haben. Daher muss mit der Türkei gemeinsam die Grenze so gesichert werden, dass es überhaupt einen Hotspot gibt, der den Namen Aufnahmezentrum auch verdient", sagte Faymann.

"Sonst wird Schengen Geschichte sein"

EU-Ratspräsident Donald Tusk betonte kurz vor Gipfel-Beginn, dass "nicht ein Drittstaat das Migrationsproblem lösen" könne. "Wir dürfen nicht naiv sein. Die Türkei allein kann nicht die Migrationskrise lösen. Das wichtigste für uns ist die Sicherung der EU-Außengrenzen. Wir können diese Verpflichtung nicht auf einen Drittstaat auslagern". Denn "ohne die Kontrolle der Außengrenzen wird Schengen Geschichte sein", warnte Tusk.

Ulrike Lunacek, Vizepräsidentin des EU-Parlaments, hat davor gewarnt, den Gipfel EU-Türkei zu einem "Kniefall (...) vor dem immer autoritärer agierenden türkischen Präsidenten" Recep Tayyip Erdogan "verkommen" zu lassen. In einer Aussendung warnte die österreichische Grüne am Sonntag in Sachen verstärkte Kooperation mit der Türkei in der Flüchtlingskrise auch: Die Lösung könne kein fauler Kompromiss unter dem Motto "Geld und Visa für die Türkei und dafür weniger Flüchtlinge für die EU" sein.