"Europa sieht sich einem Kriegsbogen gegenüber, vom Kaukasus über Nahost bis Nordafrika. Wir haben keinen Anlass zu glauben, dass sich das bessert", so der Bundesheeranalytiker Walter Feichtinger Donnerstagnacht in Graz. Den IS sieht er als kommunizierendes Gefäß: "Gerät IS im Irak unter Druck, dehnt er sich in Syrien aus." Die Assad-Frage jetzt lösen zu wollen hält der Offizier für falsch.

Brigadier Walter Feichtinger
Brigadier Walter Feichtinger © HBF

Was man aus EU-Sicht nicht haben wolle, gebe es eigentlich schon seit Jahrzehnten, eine anhaltende Migration, etwa aus Marokko, so Feichtinger bei einem Vortrag zu "Europas stürmische Umgebung" vor der Offiziersgesellschaft Steiermark. "Man geht auch davon aus, dass etwa eine Million Menschen in Libyen wartet. Der Druck wird trotz möglicher positiver Entwicklungen aufrecht bleiben", sagte der Leiter des Instituts für Friedensforschung und Konfliktmanagement.

"Wo Milch und Honig fließen"

Zum Islamischen Staat (IS) sagte der Brigadier, in dessen Gebilde lebten sieben bis zwölf Millionen, und wegen der quasi staatlichen Strukturen sei IS wesentlich attraktiver und gefährlicher als Al-Kaida: "Sie sagen, bei uns, wo Milch und Honig fließen, gibt es wahren Glauben, ihr könnt kommen und ihm zum Durchbruch verhelfen." Der IS "ernährt" sich von Öl am Schwarzmarkt, am Verkauf von Kunstschätzen sei er zu 20 Prozent beteiligt. Dazu kämen Steuern und Zölle, Geld aus Erpressungen - "90 Prozent der Finanzen kommen aus besetztem Gebiet, da ist es nicht einfach, den Geldhahn abzudrehen", sagte Feichtinger. Der IS habe ein Gebiet und eine Vision, im Gegensatz zu Al-Kaida wüssten sie, wie es weitergehe. Dazu zeigte der Brigadier eine Karte, die das von "Daesh" angestrebte Gebiet zeigte: von Nahost über Khurasan (Iran), Andalus (Spanien), Orobpa (Europa) am Balkan bis nach Afrika auf die Höhe des Kongo.

Die Terrormiliz beurteilte Feichtinger als "kommunizierendes Gefäß: "Wird im Irak der IS zurückgedrängt, versteht er es sehr gut, dann anderswo wie in Syrien stärker zu werden". Er ortete eine "angepasste IS-Strategie" auf Angriffe von außen: Der erste Punkt ist Arrondierung: Sie rechnen mit möglichen Einbrüche an den Rändern, aber das Kerngebiet wird halten. Unter den zweiten Strategiepunkt fällt die Expansion, wie etwa die Bombenanschläge auf die Hisbollah in Beirut", so der Experte. Der dritte Strategiepfeiler sei "Auftragsterrorismus" mit Aktivierung bestehender Netzwerke im Ausland wie in Libyen, Paris, am Sinai, im Maghreb und auch in Afghanistan. "Die Ordres wurden vom 'Kalif' Abu Bakr al-Bagdadi ausgegeben. Da die Türkei die Grenze dichter gemacht hat, kommen weniger Kämpfer. Seine Befehle lauten also: 'Macht Anschläge, wo ihr seid'", erklärte der Brigadier. Diesen drei strategischen Elementen müsse man unterschiedlich begegnen.

Die Türkei kocht ihr eigenes Süppchen

Die Luftangriffe der US-geführten Anti-IS-Koalition - zu der etwa Katar und Jordanien gehören - seit Juli 2014 sah er differenziert: "Die unterschiedlichen Länder fliegen nicht überall Angriffe, sie schauen genau wo und wollen es sich nicht mit allen verscherzen". Die Bilanz sei nicht beeindruckend, gemessen an anderen Konflikten. Manchmal seien es etwa 60 in einer Woche gewesen, in einem riesigen Gebiet, verglichen mit bis zu 6.400 Angriffsflüge der NATO im kleinen Kosovo. Dazu komme die Rolle der Türkei: "Mit irakischen Kurden hat man kein Problem. Damit kann Ankara leben". Anders sei die Sache mit der PKK und den syrischen Kurden. "Die Türkei hat sich ein Jahr lang seit Juli 2014 geweigert, türkische Fliegerhorste wie Incirlik für den Westen zu öffnen. "Und bedenken Sie: Die türkische Luftwaffe flog rund 500 Luftangriffe in Syrien, davon waren drei gegen den IS gerichtet. Die Türkei beurteilt die Lage ganz anders als wir in Europa".

Die Luftschläge würden nicht ausgenutzt, da bis auf die Kurden keine Kräfte am Boden eingesetzt würden, sagte der Offizier. Daher rüste der Westen die Kurden und den Irak auf, und suche Verbündete in Syrien - diese undankbare Aufgabe sei bei den Wiener Konferenzen Jordanien zugedacht worden. Eines sei gewiss: "Nur dortige Kräfte kämpfen mit Aussicht auf Zukunft". Wenngleich man von den Kurden nicht erwarten sollte, dass diese alleine den IS schlagen: "Das ist nicht ihr Ziel".

"Der Libanon geht unter"

Etwas Hoffnung mache, dass es zwei Verhandlungen zu Syrien in Wien gegeben habe: "Da stehen die Zeichen gut, denn der Iran war dabei. Ihn vorher nicht einbezogen zu haben war ein Kapitalfehler, denn er hat unglaublichen Einfluss in Syrien, bei der Hisbollah und im Irak". Sorgen mache er sich um den Zedernstaat: "Der Libanon geht unter, wenn er keine Unterstützung bekommt, auch die Türkei braucht Hilfe in der Flüchtlingsbetreuung".

Sein Resümee: "Wir haben einen Konflikt auf drei Ebenen, Bürgerkrieg in Syrien, Krieg im Irak, und Terrorismus. Es geht um Macht zwischen Saudis und Iran. Ein Fortschritt ist es schon gewesen, dass sie in Wien an einem Tisch saßen". Dennoch sei mit einer weiteren Gewalteskalation zu rechnen, denn nun flögen gleich mehrere Luftwaffen Angriffe: die US-geführte Koalition, Russland, die Türkei und Frankreich.

An Pro und Contra Syriens Staatschef Bashar al-Assad komme man nicht vorbei, "aber man muss erst die Zukunft der Region thematisieren. Die Assad-Frage kann man später lösen, das ins Zentrum zu rücken ist falsch", urteilte der Analytiker.

Europa braucht Antworten

Gebraucht würden jedenfalls "europäische Antworten. Die EU wartet oft - tun die USA was, ja, dann sind wir auch dabei. Damit ist kein Durchkommen, wir brauchen eine eigene Position. Einer allein kann es nicht schaffen, siehe Deutschland bei den Flüchtlingen, die Zeit für nationale Alleingänge in der Sicherheitspolitik ist vorbei", so Feichtinger: Wobei eine gemeinsame Position zu finden schwierig sei: "Etwa Schweden, Spanien, Polen, die haben alle ein ganz unterschiedliches Sicherheitsempfinden".

Das Entstehen neuer, möglicherweise autonomer Gebiete in den Grenzen jetziger Staaten hält Feichtinger für wahrscheinlich. "Dass sich Machtverhältnisse innerhalb jetziger Gebilde ändern, davon gehe ich aus. Aber neue Grenzen neuer Staaten, das wäre noch ein zusätzliches Problem", so Feichtinger auf APA-Anfrage.

Auf eine Frage aus dem Publikum, ob es nicht frustrierend sei, dass man der Regierung fundierte Analysen vorlege und dann vermittle diese den Eindruck, nichts zu tun, antwortete Feichtinger diplomatisch: "Ich analysiere, das ist meine Aufgabe, ich lege vor".