Am Ufer des Tigris in der zentralirakischen Stadt Tikrit bedeckt das Wachs brennender Kerzen nach und nach die Blutspuren auf der Mauer. Dort reihten Kämpfer der sunnitischen Jihadistenmiliz "Islamischer Staat" (IS) Hunderte zumeist schiitische Armeerekruten auf, töteten sie per Kopfschuss und stießen die Leichen eine nach der anderen in den Fluss.

Ein Gedenkstein erinnert an das Massaker vom vergangenen Sommer, und die Gedenkstätte entwickelt sich seit einigen Tagen mehr und mehr zum Pilgerort. Die irakische Armee hatte Tikrit mit Unterstützung schiitischer Milizen und von US-Luftangriffen Anfang des Monats von den IS-Kämpfern zurückerobert. Seitdem wurden dort elf Massengräber entdeckt. Die irakischen Behörden vermuten, dass es sich bei den Toten um Opfer des Massakers vom Militärstützpunkt Speicher handelt.

Trauernde aus dem ganzen Land

In der Nähe dieses Lagers hatte die IS-Miliz bei ihrer Offensive im vergangenen Juni bis zu 1.700 junge Rekruten der irakischen Armee verschleppt. Der IS hatte im Internet Videoaufnahmen von der Hinrichtung Hunderter Soldaten veröffentlicht und damit eine Welle der Empörung ausgelöst.

Täglich begeben sich jetzt dutzende Iraker aus dem ganzen Land zu dem mit Kerzen und Plastikblumen geschmückten Gedenkstein. Unter ihnen sind zahlreiche Angehörige, die ihre Liebsten niemals werden beerdigen können und nun den Ort besuchen, an dem diese gestorben sind. Sie strömen zum schmalen Anleger beim Gebäude der Flusspolizei in dem Palastkomplex, den der aus Tikrit stammende und 2006 hingerichtete Machthaber Saddam Hussein hatte errichten lassen.

Auch Geistliche, Studierende und Künstler unternehmen die Reise zu dem Stein. Er erinnert sie an eines der schlimmsten IS-Massaker und ist zugleich ein Symbol für den Widerstand gegen die Jihadisten.

"Hier wurde das Blut der Märtyrer vergossen, hier sollte ein Museum für alle Iraker entstehen, ein Wahrzeichen für Stolz", sagt Scheich Dargham al-Juburi beim Besuch des Denkmals. Über den Stein gebeugt, weint und betet der schwarzgekleidete Geistliche mit dem weißen Turban. Der Abgesandte des obersten Geistlichen der Schiiten im Irak, Großayatollah Ali Sistani, vergleicht die improvisierte Gedenkstätte mit der heiligen Stadt Kerbela südlich von Bagdad, eine der heiligsten Stätten der Schiiten.

Symbol für IS-Verbrechen

Wenige Tage zuvor äußerte sich am selben Ort Moin al-Kadhimi, einer der Anführer von Badr, politische Partei und zugleich eine der mächtigsten Schiitenmilizen im Irak. "Wir werden dieses Areal restaurieren, damit es zum Symbol wird für die Verbrechen des "Islamischen Staats" und seiner Verbündeten", sagte er und fügte hinzu: "Möge es für immer ein Schandmal auf ihren Gesichtern bleiben!"

Der mit dem Schutz der Gedenkstätte betraute Kadhim Abdulhassan, Mitglied der paramilitärischen Gruppe Ketaeb Jund al-Imam, hat bei dem Massaker seinen Cousin verloren. Dieser rief ihn noch mit seinem Handy an, als er und seine Kameraden von den IS-Kämpfern in dem Palastkomplex zusammengetrieben wurden. Doch die Verbindung wurde unterbrochen, seitdem hat er nie wieder etwas von seinem Cousin gehört.

Jeden Tag bezieht er Stellung auf einem Balkon gegenüber dem Gedenkstein. Sein Maschinengewehr ist auf den Fluss gerichtet, während er in einem eisernen Gartenstuhl mit abblätternder weißer Farbe sitzt. Abdulhassans Gedanken schweifen zwischen Trauer und Rache. "Ich denke an sie. Nächtelang habe ich geweint", sagt der 30-Jährige. Dabei starrt er auf den Tigris, dessen Fluten so viele Leichen wegspülten. "Diesen Ort werde ich nicht vergessen, solange ich lebe", sagt er.