Am Dienstag weilt der berühmte, aber auch nicht unumstrittene französische Star-Intellektuelle Bernard Henri-Levy bei einer Ukraine-Konferenz in Wien. Wir erreichten ihn am Wochenende telefonisch in Marokko. Er stand noch ganz unter Schock nach der Ermordung von Boris Nemzow.

In Moskau wurde der berühmte russische Oppositionspolitiker Boris Nemzow ermordet wurde. Kannten Sie ihn?

BERNARD-HENRI LÉVY: Ja, ich habe Nemzow gekannt. Er war so was wie der Anti-Putin. Während Putin Schande über Russland bringt, bringt Nemzow dem Land Ehre. Ich weiß nicht, was man von dem Mord halten soll, ein paar Schritte vom Kreml entfernt. Eines weiß ich: Putin ist die dunkle Seite dieses großartigen Landes, Nemzow ist seine Lichtgestalt. Er steht ganz in der Tradition von Sacharow, Solschenizyn, Anna Politkowskaja.

Sie unterstützen die Ukraine mit allen Fasern Ihres Herzens, doch der Osten des Landes kommt nicht zur Ruhe. Sind Sie wirklich überzeugt, dass Kiew den Kampf gegen Moskau gewinnen kann?

LÉVY: Ja, das bin ich. Putins Stärke ist das Ergebnis unserer Schwäche. Wenn sich Europa zurückzieht, schreitet er voran. Wenn Europa kraftvoll seine Stimme erhebt, zieht er sich zurück. Die Ukraine hat eine mutige Führung in der Person von Petro Poroschenko. Ich kenne ihn sehr gut. Ich habe ihn auf dem Maidan zu Beginn der Revolution kennengelernt. Ich bin beeindruckt von seiner Metamorphose als Staatsmann. Ich glaube nicht, dass Putin mit ihm mithalten kann.

Was halten Sie von Waffenlieferungen an Kiew, wie es die USA andenken?

LÉVY: Für einen Intellektuellen ist es immer schwierig, nach Waffen zu rufen. Ich habe schon viele Kriege gesehen und viele Kriegstheoretiker gelesen, um zu wissen, dass das Ungleichgewicht der Kräfte den Krieg sät. Will man die Gewalt stoppen, muss man ein Gleichgewicht herstellen. Ja, ich bin dafür, dass man die Ukraine aufrüstet, aber nicht um dem Krieg einen neuen Krieg hinzuzufügen, um die bekannte Phrase von Mitterrand zu verwenden, der die Bosnier nicht aufrüsten wollte, sondern um den Krieg zum Verschwinden zu bringen.

Ist das nicht naiv?

LÉVY: Nein, denn Putin hat einen Schwachpunkt: die öffentliche Meinung. In der Vergangenheit haben sich die Mütter der gefallenen Soldaten zu Wort gemeldet. Derzeit gibt es noch wenige Verluste auf russischer Seite. Was ist, wenn die Zahlen sprunghaft ansteigen? Stellen Sie sich eine schlagkräftige ukrainische Armee vor, die der russischen Seite große Verluste zufügt. Putin würde sich zweimal überlegen, ob er den Krieg fortsetzt.

Im Kosovo, in Bosnien, Libyen haben Sie sich für eine westliche Militärintervention ausgesprochen. Ist das auch hier eine Option?

LÉVY: Nein, die Ukrainer haben keine so schlechte Armee. Was sie braucht, sind panzerbrechende Waffen und Drohnen, keine ausländischen Soldaten. Wichtiger ist mir die wirtschaftliche Dimension. Deshalb habe ich eine Art von Marshallplan entwickelt.

Können Sie Details verraten?

LÉVY: Dieser steht im Zentrum der großen Ukraine-Konferenz am Dienstag in Wien. Die beiden großen Verbände in der Ukraine, Arbeitnehmer und Arbeitgeber, haben diese Idee bereits aufgegriffen. Wir werden in Wien ein seltenes Ereignis erleben: den Startschuss zum "Nation Building" eines europäischen Landes. Ein ambitioniertes Projekt, das sich des Wiederaufbaus annimmt. Voraussetzung für das Gelingen sind natürlich die Reform der Institutionen und der Kampf gegen die Korruption.

Die Krim ist Teil Russlands. Kann man nicht auch schon die Ostukraine abschreiben?

LÉVY: Ich bin nicht so fatalistisch wie Sie. Die Separatisten sind aufgeblasene Typen, denen noch die Luft ausgehen wird. Ich setze große Hoffnungen in den Marshallplan. In fünf bis zehn Jahren werden den Leuten im Osten, die sich von der Kreml-Propaganda haben einlullen lassen, die Augen aufgehen. Der Westen wird wirtschaftlich blühen, im Osten wird das Elend regieren. Die Menschen in Donezk werden bald verstehen, dass sie aufs falsche Pferd gesetzt haben.

Ihren Optimismus in allen Ehren, sollte man nicht dennoch ein Arrangement mit Moskau finden? Das Wesen der Politik ist der Kompromiss.

LÉVY: Sie haben völlig recht, aber nicht um jeden Preis. Putin muss an den Verhandlungstisch zurückkehren. Die gesamte Region soll zum Hort des Wohlstands und des Friedens werden. Das ist nicht nur im Interesse Europas, sondern auch im Interesse dieses großen russischen Volkes, dem leider durch eine kurzsichtige und selbstmörderische Politik jegliche Ehre genommen wird.

Sind Sie wirklich für den Nato-Beitritt der Ukraine?

LÉVY: Den habe ich schon vor 15 Jahren gefordert, aber das kann Gegenstand eines Kompromisses sein. Poroschenko hat es, so glaube ich, verstanden, auch Präsident Hollande. Gehen wir einmal den Marshallplan an.

Sie haben entscheidend dazu beigetragen, dass der Westen Luftangriffe gegen Libyen geflogen ist und Gaddafi gestürzt wurde. Heute versinkt das Land im Chaos. Welche Fehler sind passiert?

LÉVY: Es war immer klar, dass die Mission nicht mit dem Fall von Gaddafi beendet ist. Nun müssen Staat und Demokratie wieder aufgebaut werden. Ich setze mich deshalb so vehement für die Modernisierung und den Wiederaufbau der Ukraine ein, damit Europa nicht dieselben Fehler wie in Libyen macht.

Im Nahen Osten sind die Diktatoren verjagt worden, nun sind die Islamisten, der IS, am Vormarsch.

 LÉVY: Man musste sich der Diktatoren entledigen. Weil sie vom IS reden: Sind die Islamisten nicht eine Schöpfung von Assad, werden sie doch von Leuten dirigiert, die er aus den Gefängnissen entließ? Jetzt wieder auf Assad zu setzen, ist obszön und idiotisch.

Kürzlich hat Orbán Putin empfangen. Auch Wien hat ihm den roten Teppich ausgerollt, aus Angst vor wirtschaftlichen Repressionen. Ist das nicht ein Dilemma?

LÉVY: Man kann Österreich nicht mit Ungarn in einen Topf werfen. Bei Ungarn orte ich ein ideologisches Naheverhältnis zu Putin. Das kann man Österreich nicht vorwerfen. Putin agiert wie ein Zar und hat geopolitische Ambitionen, die Schaffung von Eurasien. Da sind ihm Alliierte wie Orbán oder Tsipras sehr recht.

Apropos Tsipras: Wie sehen Sie die Lage mit Griechenland? Sollte man Athen als Wiege unserer Demokratie beistehen? Oder sollte das keine Rolle spielen?

LÉVY: Ich habe letzte Woche in Kiew in der Oper eine Lesung gehalten, "Hotel Europa", wo auch die mythenumwobene Sage der Europa Erwähnung findet. Wussten Sie, dass Europa, die am Strand von Sidon von Zeus, der sich in einen Stier verwandelt hatte, entführt wurde, von ihm nach Kreta gebracht wurde, nicht nach Griechenland?

Was wollen Sie damit sagen?

LÉVY: Dass man alles tun muss, um Griechenland zu retten, aber nicht um jeden Preis.

Deutschland und Frankreich waren immer der Motor Europas, derzeit sieht es so aus, als wäre Berlin die Lokomotive und Paris das Beiwagerl. Beunruhigt Sie das?

LÉVY: Deutschland hat sich zu einer vorbildhaften Demokratie transformiert. Frankreich mit dem Front National sollte den Deutschen keine antifaschistischen Lehren erteilen. Es gibt nur einen Punkt, wo Frankreich besser ist: die internationale Politik. Ich hätte gern, dass man bei Syrien, Iran, Ukraine etwas mehr auf François Hollande hört.

Letzte Frage zum Terror in Paris: Wo sind die Gründe zu suchen, in den Banlieues oder im Koran?

LÉVY: Es ist ein politisches Problem, und Europa kennt das Problem: den arabischen Faschismus. Der IS ist der Faschismus in seiner arabischen Ausprägung.

Ist der Islam ein Problem?

LÉVY: Die Barbarei hat mit dem Islam durchaus zu tun, keine Frage. Die Killer haben gewisse Vorstellungen vom Koran, nur repräsentieren sie eine Minderheit. Man muss den Moslems helfen, diese Minderheit zu isolieren, an den Rand zu drängen. Nur so bekämpft man die Barbarei.

INTERVIEW: MICHAEL  JUNGWIRTH